: Schönheit als Lebensziel
Rockmusik wie ein guter Bordeauxwein: In Frankreich zählen Noir Désir zu den Ikonen der linken Protestbewegungen. Mit dem kosmopolitischen Kunstrock ihres neuen Albums „Des Visages des Figures“ findet die Band nun auch hierzulande Gehör
von MAX DAX
„Der Gun Club hat uns Schönheit gegeben. Ich rede in der Vergangenheitsform, denn Jeffrey Lee Pierce ist ja tot. Aber seine Musik war für uns enorm wichtig“, gerät Bertrand Cantat ins Erzählen. „Er war heroinabhängig und hatte ein hartes Leben hinter sich. Aber mit seiner Arbeit hatte er etwas geschaffen, das bleibt. Damals in Bordeaux, Anfang der Achtzigerjahre, hörten wir die ersten Platten des Gun Club, und dann gründeten wir Noir Désir“, erinnert er sich. Und auch an einen gemeinsamen Auftritt Jahre später in Stuttgart: „Wir sind zusammen in ein Restaurant zum Abendessen gegangen. Da habe ich ihn ganz anders erlebt als früher. Er hatte mit dem Heroin aufgehört, und auch getrunken hat er nicht mehr viel. Aber an diesem Abend spürte ich, dass es mit ihm bereits unausweichlich bergab ging, und ich spürte, dass es niemanden auf dieser Welt gab, der ihm auf diesem Weg nach unten helfen konnte. Ich rede davon, dass er traurig war und dass man es ihm anmerkte, eine tiefe, verzweifelte Traurigkeit. Als er starb, gab es in der Libération einen schlimmen Artikel über ihn. Sie hatten ihn „Death of a Loser“ überschrieben und kein Wort darüber verloren, dass Jeffrey uns Schönheit geschenkt hat. Ich habe den Autoren dann angerufen und zu ihm gesagt: So schreibt man über einen Hund. Aber nicht über einen Mann wie Jeffrey Lee.“
Bertrand Cantat redet ohne Pause. Das Gespräch war auf den Gun Club gekommen, und mit einem Mal fühlte er sich offenbar auf sicherem Terrain. Auf einem frühen Album von Noir Désir gibt es sogar einen Song, den Bertrand für sein Idol geschrieben hatte: „Song For JLP“. Damals spielten auch Noir Désir noch Punkrock. Cantat ist der Sänger von Noir Désir, die in Frankreich enorm erfolgreich sind. Er ist wütend auf die französischen Journalisten, weil sie auch nach Jahren noch die gleichen Fragen stellen (und respektlose Nachrufe schreiben). Als er ohne Punkt und Komma seine Ehrfurcht vor Pierce in Worte zu fassen versucht, fällt auch auf: Cantat genießt es, Englisch zu reden. Das hört sich lustig an, denn man nimmt zunächst den französischen Akzent wahr, dann erst sein Englisch: „Baat Ouass ih ha dock? – But was he a dog? – Noooh!“
Heute spielen Noir Désir statt rohem Punk eine Art kosmopolitischen Kunstrock mit literarischem Anspruch, und Bertrand sitzt zusammen mit den Musikern von Noir Désir, die alle kein Englisch sprechen, auf einem langen Sofa in einem gemütlichen Garderobenraum des Zenith, einer modernen Konzerthalle im Nordosten von Paris. Es ist Nachmittag, und eine sündhaft teure Flasche Bordeauxwein steht geöffnet auf dem Tisch. „You want a glass? Yess, I am sure you want a glass. Se problem is that the bourgeois own the wine. But we can drink it sometime, yess?“
Cantat hat ein Handtuch um seinen Kopf gewickelt, als ob er erkältet wäre. Seine Stimme ist heiser. Das gibt seinem französischen Singsang-Englisch eine sehr warme Note. Eine Dolmetscherin, die am anderen Ende des Raumes neben einem Vertreter der französischen Plattenfirma sitzt, trinkt ebenfalls Rotwein. Sie hat heute nichts zu tun und lächelt, als sie später ein einziges Wort aus dem Französischen übersetzen darf.
Man sitzt mit dem Journalisten aus Deutschland in dem gemütlichen Backstage-Raum, weil Noir Désir eine neue CD veröffentlicht haben, und das kommt nicht alle Tage vor, sondern im Schnitt nur alle fünf bis sechs Jahre. Sie trägt den Titel „Des Visages des Figures“, und sie hat sich, als sie in Frankreich erschienen ist, in den ersten zehn Tagen gleich über 500.000-mal verkauft. Alleine das Zenith ist drei Abende in Folge ausverkauft. In Deutschland dagegen sind Noir Désir so gut wie unbekannt, obwohl es die Gruppe bereits seit über 20 Jahren gibt.
Ungewöhlich am Erfolg von Noir Désir in Frankreich ist, dass sich die Band eigentlich stets dem klassischen Marketing verweigert hat. Jahrelang lehnten Cantat und seine Mitmusiker Einladungen ins Fernsehen ab, und als ihnen im März dieses Jahres zwei „Victoires de la musique“, eine Art französischer „Echo“-Musikpreis, verliehen wurden, da verlas Bertrand Cantat einen wütenden Protestbrief gegen die Schallplattenindustrie, die Musik allein als kommerzielles Produkt begreife und nicht als Kunstwerk. In Frankreich wurden Noir Désir darüber zu Ikonen der linken Protestbewegung, die neue Identifikationsfiguren brauchte, als Jean-Marie Le Pen Anfang der Achtzigerjahre mit seiner ultrarechten Front National seine ersten spektakulären Wahlerfolge erzielte. „Wir laden zu allen unseren Konzerten so viele linke und oppositionelle Gruppen ein, wie Tische ins Foyer reinpassen, damit sie ihre Anliegen vertreten können“, erzählt Bertrand. Also gibt es ein Bewusstsein, dass man die Menschen erreicht, dass man sie folgerichtig bewusst mit Inhalten konfrontieren kann? „Ja, aber das ist eigentlich nur ein Randaspekt. Was wir sagen, ist zu allererst, dass man einen künstlerischen Ausdruck nicht in eine Form pressen darf. Deshalb auch unsere kritische Haltung gegenüber der Schallplattenindustrie. Das hat am Ende des Tages mehr mit einem freien, anarchistischen Grundsatz zu tun als mit einer linken Position.“
Ihr neues Werk, „Des Visages des Figures“, hat wenig mit dem rohen Rock ihrer Erfolgsalben „Tostaky“ von 1992 oder „666.667 Club“ von 1996 gemein – gegen die genannten Alben klingt es eher wie ein introvertiertes Alterswerk. Rezitationen von Gedichten und mit großer emotionaler Geste vorgetragene Songtexte nötigen der Musik auf „Des Visages des Figures“ eine Art Trägerfunktion ab. Das einst Energetische findet sich heute im Detail wieder, und die antibourgeoise Geste ist einem Kunstanspruch gewichen, der in einem 24-minütigen Song mit dem Titel „L’Europe“ kulminiert, mit einem repetitiv gehauenen Gitarrenriff, dissonantem Saxofongetröte und beschwörendem Sprechgesang ein tolles Stück Musikdramatik. „Das ist ein sehr traumähnliches Stück, sehr transzendental“, findet Cantat. „Wenn heutzutage über Europa gesprochen wird, dann zumeist in einer sehr technokratischen Sprache – als ob Europa ein Problem wäre, das man lösen müsste. Ich habe mich gefragt, ob es nicht einen poetischen Weg gibt, wie ich ins Zentrum Europas, in die Idee Europas vordringen kann, in die Schönheit? Gibt es eine Mythologie, die heute noch oder heute wieder funktionieren würde?“
Bertrand sagt „Schönheit“, als gälte es, das Wort gegen Diebstahl zu beschützen. So, wie er es verwendet, klingt es, als sei es sein Lebensziel, Schönheit zu suchen und Schönheit zu finden, so wie er vor 20 Jahren Jeffrey Lee Pierce und den Gun Club für sich entdeckt hatte. „Soll Europa mehr sein als eine Plattform für Geld und Geschäfte, mehr als eine Kopie der USA? Oder wollen wir einen Ort, an dem Gedankenfreiheit, Kunstfreiheit und Ideenfreiheit herrschen?“, proklamiert er. Und auf die leise Entgegnung: „Vielleicht war es ja mein Großvater, der Ihrem Großvater im Zweiten Weltkrieg den Baguette-Laden weggebombt hat. So gesehen ist unsere heutige Zeit doch ein Fortschritt, oder?“, antwortet Cantat: „Of cours! It ihs!“
Dass sich ein Album von Noir Désir in Frankreich 500.000-mal verkauft, zeigt, mehr als es die nackte Zahl vermuten lässt, dass Noir Désir in ihrem Heimatland einen Status erlangt haben, zu dem es in Deutschland gar keine Entsprechung gibt. Wer wären denn die deutschen Noir Désir? Weder Element of Crime oder die Toten Hosen noch Blumfeld kämen in Frage. Es gibt keine auch nur annähernd erfolgreiche Band in Deutschland, die wie die späten Noir Désir musikalisch irgendwo zwischen den späten Einstürzenden Neubauten und den späten Radiohead einzuordnen wären.
Um diesen Status zu untermauern, arbeitet die Band mit einer entsprechend aussagekräftigen Ästhetik. Auf „Tostaky“ gab es die symbolische Verweigerungshaltung, indem die Bandmitglieder dem Betrachter den Rücken zukehrten. Das Cover von „666.667 Club“ war bereits endloser, ewiger blauer Himmel, ohne störenden Bandnamen und Titel. „Des Visages des Figures“ ist schließlich bei der Höhlenmalerei und damit einer endgültigen Deutungsebene angekommen.
Umso erstaunlicher ist daher die Zusammensetzung des Publikums im Zenith beim Konzert am späten Abend: durch alle Generationen hindurch, Männer wie Frauen, Immigranten, Franzosen. Das dreistündige Konzert beginnt theatralisch, immer wieder werden zwischen den Songs lange Textpassagen rezitiert. Das ist anstrengend, weil zäh und den Fluss des Konzerts unterbrechend, aber das Publikum scheint das nicht als störend zu empfinden: Es liebt die Show. Jeder Song wird aus vielen hundert Kehlen mitgesungen, eine bombastische Live-Show inszeniert die Band als Superstars, zum Schluss folgen Zugaben um Zugaben und sogar noch etwas Punkrock, den die Band also noch nicht vergessen hat. Das Zenith wackelt in seinen Fundamenten, nicht wenige Besucher der Show haben Tränen in den Augen.
Als ich mir ein Bier im Foyer besorge, sind die Tische der Umweltorganisationen, Anti-Globalisierungs- und Bürgerrechtsbewegungen, von denen Cantat gesprochen hatte, alle leer, weil ja alle im Konzertsaal sind und mitsingen. Dass hier die Politik im gemeinsamen Kunstgenuss aufgeht, statt dass die Kunst einem politischen Zweck untergeordnet wird – „das“, denke ich, „ist doch ein sehr französisches Phänomen“, und trinke mein Bier aus.
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