: Das Rautendorfer Experiment
Roboterbau und Videodreh: Wie fünf Hamburger Künstler in eine Dorfgrundschule „einfallen“ und eine Woche lang den Unterricht in eine kreative Werkstatt für Kinder verwandeln. Eine Reportage von Markus Jox (Text) und Kathrin Doepner (Fotos)
Kevin hat sich den linken Zeigefinger verbrannt. Mit einem Lötkolben. Ganz schön fies sieht sie aus, diese Brandblase, und der Junge gibt zu, dass ihm der Finger ordentlich weh tut. Aber daran haben sich die Dritt- und Viertklässler mittlerweile gewöhnt, an jedem Tag ihrer ungewöhnlichen Projektwoche gibt es mindestens ein Fingerbrandopfer. „Wir bauen einen Roboter, der laufen kann“, haben die Erwachsenen den Kindern zu Anfang der Woche versprochen. Drei Tage später bereits sägen, löten, bohren die Kids, als ob sie nie etwas anderes gemacht hätten. Bei all dem lustvollen Lernen hat niemand einen Blick für das Schul-Jammer-Foto in der Wümme-Zeitung, die als Lötunterlage dient: Bremens Bildungssenator Willi Lemke reibt sich darauf müde die Äuglein, und die Bildunterschrift witzelt müde: „Die PISA-Studie piesackt ihn.“
„...alles eine Frage der Perspektive“ heißt das Projekt, das fünf junge Künstler – alle in den Dreißigern – nach Rautendorf verschlagen hat: Der kleine Ort hat 63 Hausnummern und gehört zur Gemeinde Grasberg nordöstlich von Bremen. Mit einem klapprigen, verbeulten und mit Werkmaterialien vollgestopften VW-Bus sind die alerten Kreativen aus ihrer Wahlheimat Hamburg in die niedersächsische Provinz gebrettert, die Mittagspausen verbringen sie bei einem Stehbäcker in Fischerhude. „Die Lehrer halten sich klasse zurück“, loben die Künstler. Für fünf Tage hat die starre Institution Schule sich umzustrukturieren, sich zu lockern: Alle Kinder der dritten und vierten Klasse wurden zusammengewürfelt und in vier Gruppen aufgeteilt – zwei dürfen morgens ran, die anderen am Nachmittag. Auch die Pausen werden nicht mehr immer dann gemacht, wenn es klingelt. So eifrig sind die Kinder bei der Sache, dass der Schulhof schon mal warten muss.
„Bei einer solchen Arbeit checken auch Erwachsene, dass sie von den kleinen Kindern lernen können“, sagt Stefan Doepner von der Hamburger Künstlergruppe f18, die für‘s Roboterbauen verantwortlich ist. f18 erarbeitet seit 1996 Projekte im Bereich „Robotik und Elektrokunst“. Ihr Ziel: „die technologische Glorifizierung und Mystik zu entweihen und die Beziehung zwischen Menschen und Technologie erfassbar zu machen“. Also findet es Doepner „schon beeindruckend, wenn zehnjährige Mädels souverän mit dem Lötkolben irgendwelche Sachen zusammenbraten“. Sein Team will den Schülern vermitteln, dass Technik nicht tot ist, dass man auch komplizierte Gerätschaften selbst beeinflussen kann. Auch die Rollen, die Schule zu manifestieren pflegt, will f18 aufbrechen. Von einem Drittklässler, den die Mitschüler sonst hänseln und von dem die Lehrerin vorab sagte, er habe „Wurstfinger“ und sei ungeschickt, lassen sich die anderen plötzlich helfen: Er stellt sich am geschicktesten an.
Ein Stockwerk unter den Roboter-Kids bereiten Katrin Orth und Stefan Klinge mit ihrer Vormittagsgruppe die Dreharbeiten zu einem Videotrickfilm vor. Hurtig basteln sie an Requisiten, lernen das Zoomen mit der Kamera. Im Klassenzimmer – in der Rautendorfer Schule gibt es keinen Werkraum – wurde ein „on the fly“-Produktionsstudio mit Trick- und Produktionsmischer, Bluebox, Monitor und Kameras aufgebaut. Mittels Überblendtechnik erschaffen sich die Mädchen und Jungen eigene Welten und beamen sich diese hinein – die Zwillinge Jana und Nina etwa können es kaum erwarten, auf einem virtuellen Pferd durchs Bild zu reiten. Vier Welten wollen die Schüler kreieren: Meeresgrund, Großstadt, Dschungel und Reitplatz. In schlichte Holzkästen werden Kulissen hineingebastelt, mit simplen, aber auf dem Bildschirm authentisch wirkenden Gegenständen wie Matchboxautos oder Spielzeugpferden.
Diese und das Werkzeug stellt die Kunstschule Paula zur Verfügung. Marion Samel leitet diese Institution in Worpswede. Seit dem Jahr 2000 existiert „Paula“ und hält sich im Wesentlichen mit freien Mitarbeitern wie Orth oder Doepner über Wasser. Kreative Kurse für Kinder und Jugendliche sind eine Grundsäule der Kunstschule. Mit Katrin Orth und deren filmerischen Projekten arbeitet Samel schon geraume Zeit zusammen, die Gruppe f18 kennt sie seit ein paar Monaten. Bereits letzte Ostern, erzählt Samel begeistert, habe man ein ähnliches Projekt durchgeführt. Damals aber in den Räumen der Kunstschule und in den Ferien – 24 Kinder hätten daran teilgenommen. Die Mutter eines Teilnehmers aus Rautendorf sei so begeistert gewesen, dass sie nicht locker gelassen habe, die Künstler auch in die dortige Schule zu gewinnen. Den Großteil der Projektkosten hat der Landesverband der Kunstschulen in Niedersachsen übernommen, die Eltern mussten nur 15 Euro pro Kind beisteuern.
Die Robotergruppe bekommt mittlerweile einige theoretische Unterweisungen. Brav haben sich die Kinder um Lars Vaupel geschart, der über die Gefahren des „supergefährlichen“ Umgangs mit Strom referiert. „Wir müssen Kurzschlüsse vermeiden“, sagt er. Ein bisschen steif kommt Vaupel das noch über die Lippen, ein bisschen technisch. Kein Wunder, ist der Mann doch ausgebildeter Elektroingenieur und kein Sozialpädagoge. Auch Jan Cummerow, der dritte im Bunde der Roboter-“Lehrer“, kam über Umwege zur Kunst – er hat früher Autos verkauft. Auch er blickt durchaus irritiert in die Runde, als ein vorwitziger Junge die Lerneinheit für sich so zusammenfasst: „Ich weiß jetzt, was ich machen muss – mit der Zunge die Steckdose ablecken.“ Verdutzt registrieren die Hamburger auch, dass ein Jungentisch – während alle mit Engelsgesichtern vor sich hin löten – einen selbst getexteten Dreizeiler deklamiert: „Probier‘s mal mit Afghanistan / Osama und die Taliban / die blasen dir die Sorgen einfach weg.“ Die Jungen sind 9 und 10 Jahre alt.
„Leute, was ist Eure Handlung, was passiert jetzt?“, fragt Katrin Orth ihre Schützlinge. Der Videodreh im künstlichen Reitstall will noch nicht so recht klappen, und in zwei Tagen soll der Film bei der Abschlusspräsentation den stolzen Eltern vorgespielt werden. Während ein paar Mädchen in der Bluebox das Reiten simulieren, führt eine Klassenkameradin die Kamera und ein Junge fuhrwerkt ungelenk mit dem Holzpferd im Kulissenkasten herum: „Die Kinder sollen begreifen, dass das Produkt bei einem Film immer aus Gruppenarbeit hervorgeht, dass der Bildschirm nicht nur Konsumgerät ist“, sagt Orth, die in Bremen Film- und Medienkunst studiert hat. Außerdem sollten die Grundschüler Erfahrungen mit „ihrer eigenen Medienpräsenz“ sammeln. In Deutschland, klagt die junge Frau, seien Kinder „total überbetreut“, dürften nichts anfassen, weil alles angeblich zu gefährlich sei: „Für die wird es schon zu einem Fest, mit der Stichsäge eine banale Rille herauszusägen.“ Ihr Gehilfe Stefan Klinge, der Völkerkunde und Spanisch studiert hat und danach als Veranstalter von Technopartys reüssierte, findet es „total abgedreht, wenn man aus dem städtischen Raum kommt und zu tun hat mit Kindern vom Land“. Die seien weniger phlegmatisch, die Begeisterung für ein Medium wie den Videofilm sei ungleich größer – und ihr Fazit falle sicher sehr positiv aus: „Nach so einer Woche ist Schule einfach besser als vorher“.
Die Kunstschule Paula in Worpswede ist zu erreichen unter Tel. 04792/951291
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