: Freizeitpalast der Republik
Am Montag schließt das Sport- und Erlebniszentrum (SEZ) an der Landsberger Allee, vielleicht für immer. Doch den Ostberlinern bedeutet das Haus in Friedrichshain viel. Eine Erinnerung
von RICHARD ROTHER
Noch sechs, sieben Meter, dann ist die Bahn geschafft. Ich konzentriere mich schon auf die Wende, hebe noch einmal kurz den Kopf aus dem Wasser, hole kräftig Luft – und sehe plötzlich durch meine beschlagene Schwimmbrille schemenhaft, wie etwas Menschliches heranfliegt. Meine Arme rudern zurück, bremsen, kurz bevor ein Junge direkt vor mir mit dem Po zuerst und angezogenen Knien ins Wasser platscht, dass es meterhoch spritzt. „Kannste nicht kieken, wo du hinspringst“, herrsche ich ihn an, als er auftaucht. Er taucht weg zur Leiter und rennt, nachdem er ohne ein Wort zu sagen aus dem Becken geklettert ist, zum Eingang des eiskalten Außenbeckens. Blöde Gören, denke ich, als ich die ansonsten wunderbar leere Bahn zurückschwimme.
Vor zwanzig Jahren war ich die Göre. Eine Göre vom Dorf, die es gar nicht erwarten konnte, in das Sport- und Erlebniszentrum (SEZ) an der Leninallee in Friedrichshain zu kommen. Dafür war mir und meinen Kumpels aus dem Berliner Umland kein Weg zu weit, keine Mühe zu groß: zwei Stunden Fahrzeit mit der Bahn und noch einmal zwei bis drei Stunden anstehen – selbst bei Minusgraden in den Winterferien. Alles kein Problem, denn wie groß war die Belohnung, wenn wir die Schwimmhalle in dem Stahl- und Glaspalast, den „die Schweden gebaut hatten“, wie es damals hieß, endlich betreten durften.
Schnell vergessen war dann, wenn ein Schwimmmeister „Schuhe aus, det is en Barfußgang!“ brüllte oder penibel darauf achtete, dass wir nicht zu lange duschten. Anstehen und warten müssen, das waren wir gewohnt – autoritäre Erwachsene auch. Was wir aber nicht kannten: eine Schwimmhalle mit mehreren Bassins, Whirlpool, Drei-Meter-Sprungturm und vor allem – einem Wellenbecken. Jede halbe Stunde produzierten verborgene Maschinen Wellen, die größer waren als die, in die wir uns im sommerlichen Ferienlager an der Ostsee warfen. Wellen, die uns gegen beige Kacheln spülten, während draußen auf der Dimitroffstraße Straßenbahnen, Trabbis und Ladas vorbeirauschten und die in der Schlange Wartenden auf uns starrten. „Ätsch, wir sind drin und ihr nicht“, riefen wir ihnen, Grimassen schneidend, zu – und ernteten drohende Gestern.
Sehr beliebt war die Mutprobe: Dann sprangen wir in das eiskalte Außenbecken, schwammen raus bis zur Rutsche und beeilten uns, wieder in die warme Halle zu kommen, in der wir sofort in das große, proppevolle Schwimmbecken sprangen, dessen Wasser in diesem Moment Badewannentemperatur zu haben schien.
Danach aßen wir in Badehose Bockwurst – und durch die Scheibe konnten wir, uns die Nasen an der kühlen Scheibe platt drückend, die Schlittschuhläufer und vor allem -läuferinnen bewundern, die auf der Kunsteisbahn des Polariums Pirouetten drehten. Manchmal hielt einer vor uns, um grinsend auf unsere dünnen Beine und die schlabbrigen Badeshorts zu zeigen.
Nach dem Baden streiften wir lange durch den für DDR-Verhältnisse einmaligen Gebäudekomplex. Spielten Billard, aßen Grilletta, tranken Club-Cola; sahen Jungs beim Tischtennisspielen in der großen Turnhalle zu und Mädchen beim Planschen im Whirlpool. Nicht nur die Vielseitigkeit des Angebots in diesem Freizeitparadies des Ostens war grandios, sondern auch die Technik: Dass eine automatische Drehtür die abgelaufene Zeit auf der Eintrittskarte elektronisch lesen konnte, war ein kleines Wunder. Schließlich konnten wir in jeder Straßenbahn die mechanischen Fahrkartenautomaten überlisten und umsonst reihenweise Tickets ziehen. Honeckers Fünfjahresplan war uns Sechstklässlern egal – aber auf das SEZ waren wir irgendwie stolz.
Mitte der 90iger-Jahre entdeckte ich das SEZ neu, als ich berufsbedingt Alternativen zu den starren Trainingszeiten meines Sportvereins suchte. Das Hallenbad an der Allee, die jetzt nicht mehr nach Lenin, sondern dem polnischen Landsberg benannt war, wurde diese Alternative, obwohl es genügend andere Schwimmbäder gegeben hätte. Das SEZ blieb immer etwas Besonderes – nicht nur wegen der Architektur, sondern auch, weil jeder Besuch einem soziologisch interessanten Ausflug in das Innere Ostberlins glich. Die rechten Teenager gehörten ebenso zu diesem Berlin wie die Russlanddeutschen und die vietnamesische Kinder, die mit großen Augen am Rand des Wellenbeckens standen; die schwulen Prenzelberger, die sich unter der Dusche schon viel eindeutigere Blicke als noch fünf Jahre zuvor zuwarfen; die Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen und Verkäuferinnen, die in den Pausen des Aqua-Fitness-Kurses Allegra lasen; die kurzhaarigen, muskelgestählten Bademeister und die unfreundlichen Kassiererinnen: sie alle bildeten den Mikrokosmos einer Zeit, in der viele einen rasanten Umbruch erlebten – und vielleicht deshalb versuchten, sich am Alten, oft nostalgisch Verklärten festzuhalten.
Wahrscheinlich störte es deswegen kaum jemand, dass die Umkleide- und Duschkabinen verrotteten, weil sie nicht renoviert wurden; dass es auf dem Klo immer nach Urin roch und die Föhne kaputt waren. Man blieb im SEZ, weil man an seinem Mythos vom sozialistischen Luxusbad für alle festhalten wollte.
Und ich redete mir – wenn Freunde mich fragten, wieso ich so „gern mit Ostnazis schwimme“ – das Bad schön, indem ich den einen oder anderen kleinen Vorteil betonte, den die Schwimmhalle im SEZ gegenüber anderen Bädern tatsächlich hat: Weil die Duschen direkt neben den Umkleidekabinen sind, kann man sich das lästige mehrfache An- und Ausziehen der Badesachen sparen. Benutzerfreundlich sind auch die Sonnenbänke, die sich im Badebereich und nicht außerhalb befinden. Einmalig praktisch ist das Schlüsselband: Anstatt einhändig an einem Stoffband und einem Verschluss herumfummeln zu müssen, streifen sich die Besucher einfach einen Hartgummireifen über das Hand- oder Fußgelenk. Und bummeln nach dem Baden durch ein warmes, geräumiges Foyer, von dem aus sich das gesamte Bad durch riesige Scheiben überblicken lässt. Schön!
Seitdem war ich in den Wintermonaten fast einmal pro Woche im SEZ. Mit den Jahren leerte sich das Haus, über das sich eine depressive Stimmung zu legen schien. Der Glanz des Mythos bröckelte wie die Farbe an den Wänden. Die ungewisse Gegenwart, die ungewisse Zukunft zerrten an den Nerven der Beschäftigten, die sich im Stich gelassen fühlen: von Sportsenator Klaus Böger (SPD), den Bäderbetrieben und dem eigenen Management, das sich nicht engagiert habe. „Wir quellen über vor Wut“, sagt eine Mitarbeiterin.
Im Wasser des 25-Meter-Beckens ist davon an diesem Dezembertag wenig zu spüren. Ein knappes Dutzend Badende freut sich über das leere Becken, und der schnauzbärtige Bademeister schäkert, laut pfeifend, mit einer jungen Besucherin. Es ist Dienstagabend, der 17. Dezember 2002, 19.45 Uhr: Ich hole noch einmal tief Luft und stoße mich von der Bande ab, wenig später ist die letze Bahn geschwommen. Mit dem SEZ würde nicht nur ein Sportzentrum untergehen, sondern auch ein Stück Geschichte. Unter einer Schwimmbrille sind Tränen nicht zu sehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen