Archäologie und NS-Verbrechen: Nach Nazi-Terror graben

Wie der Archäologe Wojciech Mazurek im früheren Nazi-Vernichtungslager Sobibor nach den Spuren von Opfern und Tätern sucht.

eine silberne Armbanduhr ohne Ziffernblatt

Gefunden in Sobibor: eine Armbanduhr ohne Ziffernblatt Foto: Klaus Hillenbrand

SOBIBOR/MAJDANEK taz | Wojciech Mazurek stapft durch den Wald. Das Unterholz ist dicht hier, die Füße bleiben immer wieder an Baumstümpfen und niedrigem Gestrüpp hängen. Rote Fliegenpilze mit ihren weißen Punkten leuchten am Waldboden, gelbe Pfifferlinge schimmern zwischen Kiefernnadeln. In den endlosen polnischen Wäldern an der Grenze zu Weißrussland streifen Pilzsammler durch den Forst. Wenn sie ihn verlassen, sind ihre Weidekörbe bis oben gefüllt.

Nur hier nicht. Hier, in diesem Wald, sucht niemand nach Speisepilzen.

Der 58-jährige Wojciech Mazurek kennt den Weg in- und auswendig. Trotzdem trägt er auf einem hölzernen Klemmbrett detaillierte Karten unter dem Arm. Er überquert einen schnurgeraden Weg und steuert auf eine Lichtung zu, die nahezu quadratisch in den Forst geschlagen wurde und den sandigen Boden freigibt. Er bleibt stehen und deutet auf den Boden. „Da stand einmal die Baracke, in der den Frauen und Mädchen die Haare geschoren wurden“, sagt er.

Dies ist kein gewöhnlicher Wald, und Wojciech Mazurek, gekleidet in graue Arbeitshosen und T-Shirt, eine verblichene Basecap auf dem Kopf, ist kein Förster.

Seit dreizehn Jahren forscht der Archäologe, der früher einmal mittelalterliche Siedlungen in Mecklenburg-Vorpommern ausgegraben hat, im Wald von Sobibor.

Sobibor: ein Ort ausschließlich zum Töten

Sobibor. Bis zum Herbst 1943 stand hier eine der Mordfabriken der Nazis. In dem Vernichtungslager gleichen Namens wurden 1942 und 1943 mindestens 170.000 Menschen ermordet. Ihre genaue Zahl kennt niemand. Die Opfer waren Juden – vornehmlich aus Polen, wo man sie zuvor in Gettos gesperrt hatte. Andere kamen aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, aus Weißrussland, der Slowakei und Tschechien. Der Massenmord firmierte unter der Bezeichnung „Aktion Reinhardt“, sein Ziel war die Tötung aller polnischen Juden. Neben Sobibor wurden dazu die Lager Belzec und Treblinka errichtet.

Aber was heißt hier „Lager“? Hier wurde nicht gelagert, sondern gemordet, unter Leitung von nur einem guten Dutzend SS-Männern und unter tätiger Mithilfe von vielleicht 100 ukrainischen Wachhabenden.

Wojciech Mazurek

„Da stand die Baracke, in der die Frauen geschoren wurden“

Die Züge erreichten den Bahnhof Sobibor, mitten im Wald gelegen. Die Waggons wurden an eine Rampe rangiert, die Todgeweihten mussten aussteigen und vom Vorlager aus in einen Komplex laufen, der die Bezeichnung „Lager II“ trug. Dort mussten sie ihre Kleidung, Koffer, Wertsachen und andere Habseligkeiten ablegen.

Von den wenigen, die damals aus Sobibor flüchten konnten, lebt heute niemand mehr. Eine von ihnen, Ada Lichtman, berichtete: „Wir hörten Wort für Wort, wie Oberscharführer Michel, der auf einem kleinen Tisch stand, die Menschen überzeugen konnte, sich zu beruhigen. Er versprach ihnen, dass sie nach dem Bad alle ihr Eigentum zurückerhalten würden und dass es nun an der Zeit wäre, dass die Juden etwas zur Produktion beitrügen. Sie würden alle in die Ukraine fahren, um dort zu leben und zu arbeiten. Die Ansprache löste unter den Menschen Vertrauen und Begeisterung aus. Sie spendeten spontan Beifall und manchmal sangen und tanzten sie auch.“

Der Weg in die Gaskammern

Danach ging es weiter in das noch strenger abgeschirmte „Lager III“, von dort – mit Peitschenhieben und von Hunden getrieben – in einen von Stacheldraht umsäumten schlauchartigen Weg zu den wenige Hundert Meter entfernten Gaskammern. Dort war ein Lastwagenmotor installiert, der seine Abgase in die Kammern leitete. Es war ein qualvoller Tod. Jüdische Arbeitssklaven mussten die menschlichen Überreste beseitigen – bis sie selbst umgebracht und durch neue Kräfte ersetzt wurden.

Den Weg zu den Gaskammern nannten die SS-Männer „Himmelfahrtstraße“.

Wo einmal die Baracke stand, in der die Frauen geschoren wurden, nimmt Wojciech Mazurek die Karte von seinem Klemmbrett und breitet sie aus. Eine verwirrende Zeichnung ist zu erkennen. „Hier entlang ging die sogenannte Himmelfahrtstraße, wir haben sie eben überquert“, sagt er und deutet auf schraffierte Linien.

Tausende nummerierte Punkte sind eingezeichnet, manche dicht gedrängt, andere vereinzelt: Fundstücke der Archäologen. „Wo früher die Baracke stand, haben wir im letzten Herbst ein silbernes Amulett gefunden, eingraviert die Ortsbezeichnung ‚Frankfurt a. M.‘ und das Datum ‚3. 7. 1929‘.“ Das Geburtsamulett gehörte einmal einem jüdischen Mädchen aus Frankfurt mit dem Namen Karolina Cohn.

25.000 solcher Funde haben Mazurek und seine Mitarbeiter bisher kartiert, darunter allein 4.000 Brillen, die größtenteils aus den früheren Massengräbern stammen.

Die Hinterlassenschaften der Opfer

In Lublin, achtzig Kilometer entfernt, lagern heute die wichtigsten Objekte in der Gedenkstätte Majdanek. In einem schmucklosen Büro lässt dort die Mitarbeiterin Agnieszka Kowalczyk-Nowak eine flache hölzerne Kiste herbeibringen. Darin liegen, sorgfältig in Klarsichtbeuteln verpackt: ein Nassrasierer aus Eisen, schwarz verfärbt, eine Armbanduhr, ohne Ziffernblatt, eine Gürtelschnalle. In einem anderen Kistchen: das Amulett der Karolina Cohn. Anfassen nur mit weißen Handschuhen. Das Silber glänzt.

„Jedes Objekt erzählt seine eigene Geschichte“, sagt Kowalczyk-Nowak. „Diese Dinge machen klar, was vor 75 Jahren mit Kindern, Erwachsenen und Alten geschehen ist.“ Die meisten Fundstücke sind aus Eisen gefertigt, berichtet sie. „Wir lassen sie restaurieren, um den Zerfallsprozess zu beenden. Aber sie sollen nicht wie neu aussehen.“

Waldboden verbirgt noch Tausende weitere Objekte

Die Gedenkstätte auf dem Gelände des früheren Konzentrationslagers Majdanek entstand schon bald nach der Befreiung. Warum wurde hier früher als anderswo in Polen der Ermordeten gedacht? „Polen lebte unter einem kommunistischen Regime“, beginnt Kowalczyk-Nowak zu erklären. „In Majdanek gab es nicht nur Juden, sondern auch christliche Polen und sowjetische Kriegsgefangene unter den Opfern.“

An die Schoah sollte damals hingegen nicht erinnert werden, Juden sollten keinen eigenen Opferstatus erhalten, so lautete das Credo zu so­zialistischen Zeiten. Und in Sobibor, wo es keine Baracken mehr zu sehen gab, sagt Kowalczyk-Nowak, sei es einfach gewesen, den Ort zu vergessen. Erst in den 60er Jahren entstand dort ein unscheinbares Mahnmal.

Auf der Lichtung im Wald von Sobibor deutet der Archäologe Mazurek in Richtung der Bäume. „Hier liegt wohl noch viel mehr, aber wir haben dort noch nicht gegraben“, sagt er. Er vermutet, dass die Erde Tausende weiterer Erinnerungsstücke der Ermordeten verborgen hält: „Als wir im Wald mit Metalldetektoren unterwegs waren, haben die wie wild geknattert.“

Agnieszka Kowalczyk-Nowak

„Jedes Objekt erzählt seine eigene Geschichte“

Nur wenige Gefangene entkamen dem Lager. Am 14. Oktober 1943 wagten die jüdischen Arbeitssklaven von Sobibor einen Aufstand, töteten einige der SS-Männer und Ukrainer, überwanden die Stacheldrahtsperren und rannten in die umliegenden Wälder. Es waren wohl 365 Menschen, denen so die Flucht gelang. Doch nur 47 von ihnen erlebten das Ende des Krieges.

Inzwischen sind alle tot. Einer der letzten, Thomas Blatt, der sein ganzes Leben lang über Sobibor geforscht hat, ist vor zwei Jahren verstorben. Niemand kann mehr erzählen, was dort geschehen ist. Was bleibt, sind die Dokumente in Archiven und die materiellen Spuren im Boden.

Ein fast perfektes Verbrechen

Die SS löste das Lager nach dem Aufstand auf und ließ die hölzernen Baracken abreißen. Zu diesem Zeitpunkt waren ohnehin fast alle polnischen Juden ermordet worden, Sobibor hatte seinen Zweck erfüllt.

Auf dem Gelände entstand ein Bauernhof, von Polen bewirtschaftet. Ringsherum ließ die SS einen Wald anpflanzen. Die Nazis verwischten ihre Spuren, wo sie es nur konnten. Nicht sollte verraten, was geschehen war. Ein fast perfektes Verbrechen.

Deshalb gräbt Wojciech Mazurek hier heute, zusammen mit seinem israelischen Kollegen Yoram Haimi. Anfangs gab es nur unscharfe Erinnerungen der wenigen Überlebenden an das Gelände von Sobibor, dazu kamen die Aussagen der später angeklagten SS-Männer. Die Archäologen wollen die Topografie von Sobibor enthüllen.

Es ist eine akribische und mühsame Arbeit, der Mazurek und Haimi zusammen mit zehn bis zwanzig polnischen Arbeitern nachgehen: Die Sommer sind heiß, und Millionen Stechmücken bevölkern den Wald. Der Boden wird mit der Schaufel angegraben. „Schicht für Schicht und mit Sieb und Pinsel“ wird das Erdreich danach untersucht, sagt Mazurek. „Wir müssen alle Informationen haben.“

Die alten Holzbalken sind heute, 75 Jahre nach dem Verbrechen, längst verrottet. Bodenverfärbungen verweisen auf Spuren der Pfosten von Stacheldrahtverhauen zu beiden Seiten der „Himmelfahrtstraße“. Ähnliche Spuren erinnern an die Baracken und an einen Fluchttunnel, durch den jüdische Zwangsarbeiter 1943 zu entkommen suchten, wobei sie aber verraten wurden. Vor drei Jahren gelang es den Forschern, den Standort der Gaskammern zu identifizieren. Die Betonfundamente und Mauerreste lagen verborgen unter der Teerdecke einer schmalen Straße, die, in den 1960er Jahren angelegt, zu einem Mahnmal führte.

Das Mahnmal ist ein fensterloser steinerner Turm. Er steht noch, vielleicht dreißig Meter von der Baracke entfernt, wo das Amulett von Karolina Cohn 1943 vermutlich durch den Dielenboden der Baracke ins Erdreich fiel. An dieser Stelle weicht der Wald zurück und macht einer großen Lichtung Platz. An deren Ende liegen, unnatürlich im ebenen Gelände wirkend, flache Hügel. Seit Kurzem sind sie mit schneeweißen Steinen bedeckt. Hier liegt die Asche der Ermordeten.

Es gab keine Krematorien in Sobibor. Bis Ende 1942 wurden die Toten in Massengräbern verscharrt. Am Ende waren es 100.000 Leichen. Wir wissen das dank eines Telegramms von SS-Sturmbannführer Hermann Höfle, das vor einigen Jahren entdeckt wurde: Darin beziffert der stellvertretende Chef der „Aktion Reinhardt“ die Zahl der in Sobibor Ermordeten mit Datum vom 1. Januar 1943 auf 101.370.

Ein furchtbarer Verwesungsgestank muss damals über dem Gelände gelegen haben. Der Boden hob und senkte sich. Um die Spuren zu verwischen, mussten Häftlinge über einer Grube einen großen Rost aus Eisenbahnschienen errichten. Die Leichen wurden exhumiert und dort verbrannt, tausend auf einmal. Feuer und Rauch waren bis in die zehn Kilometer entfernte Kleinstadt Włodawa zu sehen.

„Beim Öffnen haben wir Schichten gefunden, erst Sand, dann Asche, dann wieder Sand und Asche. Ganz unten aber verspürten wir den süß­lichen Geruch von Blut“, sagt Mazurek.

Auf der Suche nach einer Botschaft der Ermordeten

Wojciech Mazurek ist ein Getriebener. „Ich muss an der Erde arbeiten. Wir müssen alle Information haben“, sagt er, nahe bei den früheren Gaskammern stehend. Von den jüdischen Zwangsarbeitern, die dort die Leichen herauszerren mussten, hat niemand überlebt. Sie konnten sich auch nicht an dem Aufstand von 1943 beteiligen. Sie wussten, dass sie ermordet werden würden. Deshalb hat Mazurek eine Hoffnung: „Vielleicht finden wir eines Tages ein schriftliches Zeugnis von ihnen, eingeschlossen in einer Blechdose.“

Beispiele dafür gibt es. Das bekannteste ist das Archiv des jüdischen Historikers Emanuel Ringelblum über die Ereignisse im Warschauer Getto. Ringelblum, der selbst 1944 ermordet wurde, verbarg es in Metallkisten tief im Keller eines Hauses, aus dessen Trümmern die Papiere nach dem Krieg gerettet werden konnte.

Vom Bahnhof von Sobibor fährt kein Zug mehr. Die Schienen haben feinen Rost angesetzt. Hier – nur ein paar Dutzend Meter von der Güterrampe und der einzigen Straße in der Gegend entfernt – errichten Arbeiter gerade die Fundamente eines künftigen Museums für das Vernichtungslager. Später sollen darin auch einmal Fundstücke wie das Amulett von Karolina Cohn ausgestellt werden.

Das ist ein lobenswertes Unterfangen, das auch international viel Unterstützung findet. Doch die Archäologen sind davon alles andere als begeistert: Denn der Bau entsteht dort, wo sich einst Teile des „Lagers II“ befanden. Die Archäologen befürchten, dass durch den Bau wertvolle Informationen unwiederbringlich verloren gehen könnten. Sie müssen jetzt Notgrabungen ansetzen.

Wojciech Mazurek deutet auf die Bahnrampe, deren Betonbelag auf die 1950er Jahre verweist. Damals wurde hier Holz abgefahren. Für das Vernichtungslager interessierte sich niemand. „Vielleicht ist das gar nicht die Rampe, wo man die Juden zum Verlassen der Waggons gezwungen hat“, meint er. Es gebe keine Dokumentation aus der Zeit, keine Fotos, nichts. Er vermutet die Rampe ein Stück weiter westlich, dort, wo heute die einzige Straße verläuft.

Wojciech Mazurek muss sich jetzt beeilen. Er fährt in die Kleinstadt Włodawa. Dort will er sich die Genehmigung holen, die Straße aufzureißen.

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