Arbeitszeitverkürzung: Erst Zeitkonten abschmelzen

Experten hoffen auf weniger Stress im Joballtag durch Arbeitszeitverkürzung - und dadurch auch auf mehr Stellen.

Durch Arbeitszeitverkürzung könnten Jobs auf mehr Menschen verteilt werden. Bild: dpa

BERLIN/NÜRNBERG taz | Das Vorzimmer von Stefan Dräger ist verwaist. Beim Medizinhersteller in Lübeck ist die Büroleiterin des Firmenchefs länger im Urlaub. Die Gewerkschaft habe es so gewollt, sagt der Eigentümer spöttisch. Nun muss er sich auch um die Sachen kümmern, die man sonst für ihn erledigt.

In vielen Unternehmen achten Betriebsräte und Gewerkschaften derzeit darauf, dass die Beschäftigten zunächst die Überstunden abfeiern, die sie oft zu Hunderten auf ihren Arbeitszeitkonten angesammelt haben. Erst wenn die Arbeitszeitspeicher leer sind, will man über weitere krisenbedingte Sparmaßnahmen beim Personal beraten.

Entgegen landläufiger Meinung ist die ausgedehnte, staatlich geförderte Kurzarbeit nicht die alleinige Ursache dafür, dass im Zuge der Wirtschaftskrise in Deutschland bislang so wenige Arbeitsplätze verloren gegangen sind. "Drei Viertel des Effektes haben andere Ursachen", sagt Ulrich Walwei, der Vizechef des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bei der Bundesagentur für Arbeit. Dazu zählen unter anderem das Abschmelzen der Arbeitszeitkonten und die Arbeitszeitverkürzung aufgrund von Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen.

Der deutsche Arbeitsmarkt ist in den vergangenen Jahren erstaunlich flexibel geworden. "Die neue Debatte über Arbeitszeitverkürzung ist in vollem Gange", sagt Gerhard Bosch, Professor für Arbeits- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Duisburg-Essen. Er verbindet damit nicht nur die Hoffnung, dass die Arbeit weniger stressig wird, sondern auch, dass sie auf mehr Menschen verteilt werden kann. Das könnte einigen der bislang Ausgeschlossenen neue Zugänge zum regulären Arbeitsmarkt eröffnen und die Erwerbslosigkeit in den kommenden Jahrzehnten reduzieren.

Ulrich Walwei ist da skeptischer. Er betrachtet die Verringerung der Arbeitszeit auch als vorübergehende Reaktion auf die Krise: "Wenn künftig gut ausgebildete Fachkräfte fehlen, weil nicht genug Junge nachrücken, wird die Arbeitszeit pro Kopf wieder zunehmen."

Der Mangel an Facharbeitern und Technikern ist selbst in der Krise ein Problem für manche Firma. Sollte Walwei recht behalten, dass bald weniger Leute mehr arbeiten, würde die Sphäre der gut dotierten Lohnarbeit künftig abgeschottet bleiben.

Derweil wächst der Niedriglohnsektor. Während 1995 noch 15 Prozent der Beschäftigten zwei Drittel des Durchschnittslohnes oder weniger erhielten, waren es 2006 bereits 22 Prozent. Dehnt sich dieser Bereich aus, müssen bald mehr Menschen mit Stundenlöhnen von 3 oder 5 Euro zurecht kommen.

IAB-Forscher Walwei ist nicht optimistisch: "Das produzierende Gewerbe, das vergleichsweise gute Löhne zahlt, verliert tendenziell Arbeitsplätze. Demgegenüber wächst der Dienstleistungssektor, in dem die Bezahlung oft niedriger liegt." Er glaubt aber auch, dass die Entwicklung gestaltbar sei. Der Staat könne den "Niedriglohnbereich sozialverträglicher machen", indem dort die Sozialbeiträge und Steuern reduziert würden. Die Niedriglohnarbeiter hätten dann mehr Netto in der Tasche.

Auch Gerhard Bosch betont den Spielraum der Politik. Ein "gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro in den westlichen Bundesländern und 7,00 Euro im Osten ist möglich", so Bosch.

HANNES KOCH

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