Arbeitsbedingungen im Agrarwesen: Ackern ohne Absicherung
Keine Branche setzt stärker als die Landwirtschaft auf Personal, das keine Sozialversicherung hat. Betroffen sind vor allem ErntehelferInnen.
Auf Platz zwei steht die Branche Werbung und Marktforschung, bei welcher der Anteil ohne Sozialversicherung 9 Prozent beträgt. An dritter Stelle steht der Bereich „Vermittlung und Überlassung von Arbeitskräften“ mit 3 Prozent. Das zeigt eine statistische Auswertung, die die Bundesagentur für Arbeit auf taz-Anfrage erstellt hat. Auch nach den noch nicht vollständigen Daten für 2020 liegt die Landwirtschaft vorn.
Das gilt ebenfalls für den Vergleich in absoluten Zahlen: Im Mai 2020 bestanden in der Landwirtschaft laut Statistik 83.000 kurzfristige Beschäftigungsverhältnisse – so viele wie in keiner anderen Branche. 2019 waren es im Schnitt über alle Monate 42.000. Die Arbeitsvermittlungsbranche kam auf 30.000, die Werbung und Marktforschung auf 22.000.
Manche Bauern hatten beanstandet, dass vor allem ihre Branche wegen der sozialversicherungsfreien Jobs kritisiert werde. Die deutsche Landwirtschaft bekommt jedes Jahr etwa 6 Milliarden Euro Agrarsubventionen von der EU. Die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) fordert, das Geld künftig nur noch an Höfe zu zahlen, die Tarifverträge einhalten.
Prekarität im Namen des Corona-Schutzes
Bei der sogenannten kurzfristigen Beschäftigung in der Landwirtschaft müssen ArbeiterInnen laut IG BAU beispielsweise im Fall einer Corona-Erkrankung die Behandlungskosten mitunter selbst zahlen. Sie erwerben auch keine Rentenansprüche. Dabei bekommen sie meist nur den gesetzlichen Mindestlohn von 9,50 Euro die Stunde – oft minus Abzüge für Unterkunft und Verpflegung. Zudem gehen der deutschen Sozialversicherung Beiträge verloren.
Dennoch hat der Bundestag am 22. April mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und AfD beschlossen, dass Saisonkräfte in diesem Jahr 102 statt wie normalerweise 70 Tage ohne Sozialversicherung arbeiten dürfen. Bereits im vergangenen Jahr hatte das Parlament sogar einer vorübergehenden Verlängerung auf 115 Tage zugestimmt.
Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) zufolge soll die Entscheidung dazu führen, dass das Personal in den Betrieben weniger wechselt, sodass das Risiko von Corona-Infektionen sinke. Eine Onlinepetition auf dem Portal change.org fordert hingegen, im Kampf gegen Corona erst einmal eine Einzelzimmer- und Krankenversicherungspflicht für ErntehelferInnen durchzusetzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten