Appell an Nichtwähler:innen: Rafft euch!
Nicht-Wählen als revolutionärer Akt ist peinlich. Gerade weil diejenigen, die unter rechten Parteien am meisten zu leiden haben, kein Wahlrecht haben.
![Wahlhelfende sortieren und zählen Stimmzettel auf eine Tisch liegend Wahlhelfende sortieren und zählen Stimmzettel auf eine Tisch liegend](https://taz.de/picture/7515235/14/wahl-1.jpeg)
L inke, die erklären, dass sie nicht wählen werden. Zum Glück habe ich in den letzten Wochen erst wenige Statements dieser Art gehört. Doch langsam tröpfeln die ersten ein und wie sagen wir so schön: „Wehret den Anfängen“.
Sätze wie „Ich wähle nicht, denn ich kann nicht mehr in den Spiegel gucken, wenn ich einer von diesen Parteien meine Stimme gebe“, sind für mich absolut nicht nachvollziehbar. Wie narzisstisch muss man sein, um angesichts des drohenden Faschismus zuerst an sein Spiegelbild zu denken? Klar ist mir meine Stimme wichtig. Die gebe ich nicht einfach so an irgendeine Partei ab. Wählen ist auch keine Pflicht, aber Wählen-Dürfen ist ein Privileg, und ich kann und will über jede Person die Augen rollen, die es nicht nutzt.
Nicht-Wählen als revolutionärer Akt ist einfach peinlich. Gerade weil diejenigen, die unter dem Erstarken rechter Parteien am meisten zu leiden haben, gar kein Wahlrecht haben: So viele Menschen, die hier leben, arbeiten und das Land mit prägen, haben nicht das Recht, mitzuentscheiden, wer sie regiert, weil sie nicht den richtigen Pass haben.
Und Kinder und Jugendliche, die von den Entscheidungen, die wir jetzt für diesen Planeten treffen noch wesentlich länger betroffen sind, auch nicht. Die Menschen, auf deren Köpfen und Rücken dieser rassistische Wahlkampf ausgetragen wird, dürfen nicht wählen. Aber irgendein Malte in Friedrichshain denkt, dass er linken Parteien einen Denkzettel verpassen kann, weil keines der Angebote auf ihn zugeschnitten ist. Er will abgeholt werden.
Macht keinen Spaß, aber ist lebensverlängernd
Nun gibt es sehr gute Gründe, keine Partei mit vollster Überzeugung zu unterstützen. Für viele ist der Gang ins Wahllokal eher ein Walk of Shame als eine Parade. Für mich ist es wie Joggen. Macht keinen Spaß, aber unter Umständen lebensverlängernd. Ich verstehe, wenn Menschen sagen, ich kann nicht ohne Bauchschmerzen die Linke wählen wegen ihrer Außenpolitik. Oder die Grünen wegen ihrer Migrationspolitik. Und die SPD wegen der SPD. Aber wenn ihr das nicht wollt, wollt ihr erst Recht nicht mehr Prozente für CDU und AfD.
Empfohlener externer Inhalt
Wer das wirklich nicht über sich bringen kann, kann ja auch drüber nachdenken, im Namen einer anderen Person zu wählen. Ich erinnere mich an Aktionen, bei denen Menschen, die nicht wählen wollten, Menschen gefragt haben, die nicht wählen durften und dann in deren Sinne ihre Stimme abgegeben haben.
Dieser Wahlkampf ist ermüdend und die Hetze gegen Minderheiten, besonders gegenüber PoC, Migrant*innen und Menschen mit Migrationshintergrund, ist kaum zu ertragen. Ich will, dass dieser Wahlkampf aufhört – aber ich habe große Angst vor dem, was aus ihm folgt, „gelernt wird“ und danach kommt. Sollten Menschen diesen Text lesen, die aus Bequemlichkeit oder Gewohnheit ihr Wahlrecht verfallen lassen: Rafft euch!
In meiner letzten Kolumne habe ich mir mehr Sichtbarkeit für linke Themen gewünscht. Das gilt auch für sogenannte „innerlinke Debatten“. Führt sie und stellt Forderungen an die Parteien. Aber lasst sie um eure Stimmen kämpfen und nicht darum, ob sie euch überhaupt an die Urne bekommen. Und vor allem: Nehmt sie in die Verantwortung, wenn sie gewählt wurden. Erinnert sie auch gern dran, dass sie eure Stimmen aus antifaschistischer Not heraus bekommen haben und nicht aus vollster Überzeugung und fordert sie auf, entsprechende Politik zu machen.
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