Anwalt über Versammlungsrecht und Corona: „Ein schwerwiegender Eingriff“
Dass Demonstrationen nur mit Ausnahmegenehmigung möglich sind, hält Peer Stolle für eine kritikwürdige Einschränkung von Grundrechten.
taz: Herr Stolle, um die Verbreitung des Corona-Virus einzudämmen, wird unter anderem auch das Demonstrationsrecht eingeschränkt. Wie einschneidend sind die Maßnahmen?
Peer Stolle: Das Demonstrationsrecht ist aktuell massiv eingeschränkt, wenn nicht sogar vollkommen aufgehoben. Mittlerweile – seit einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – werden von den Gerichten einzelne Versammlungen unter Auflagen erlaubt. Vor 2/3 Wochen waren die Einschränkungen stärker, da wurden so gut wie alle Versammlungen verboten.
Welche Einschränkungen gibt es denn?
In Deutschland gibt es keine einheitliche Regelung, sondern einzelne Regelungen in jedem Bundesland; das macht die Situation schwer. In manchen Bundesländern sind Versammlungen absolut verboten, in anderen ist die Versammlungsfreiheit eingeschränkt. Das ist ein erheblicher Eingriff. Normalerweise ist man nur verpflichtet, Versammlungen anzuzeigen. Eine Genehmigung braucht man nicht. Jetzt sind alle Versammlungen verboten und man muss eine Ausnahme beantragen. Das kehrt das Grundrecht in sein Gegenteil.
Wie darf man noch protestieren?
Stand jetzt sind in Berlin alle Versammlungen verboten. Für Versammlungen mit bis zu 20 Teilnehmenden kann eine Ausnahmegenehmigung beantragt werden. Dann gibt das zuständige Gesundheitsamt eine Einschätzung zum Infektionsschutz ab. Abschließend entscheidet die Versammlungsbehörde. Die Kriterien, die dafür erfüllt sein müssen, sind selten nachvollziehbar.
Sind die Einschränkungen der Situation angemessen oder ein unverhältnismäßiger Eingriff in unsere Grundrechte?
geb. 1973, ist Vorstandsvorsitzender des RAV. Er ist Fachanwalt für Strafrecht und arbeitet vor allem in den Bereichen Strafverteidigung, Strafvollzug und Polizeirecht.
Es ist natürlich ein schwerwiegender Eingriff. Die Versammlungsfreiheit ist eine der Grundlagen für eine streitbare Demokratie. Gerade in Zeiten schwerer Krisen ist die Wahrnehmung eines solchen Grundrechtes unabdingbar. Es ist wichtig, dass die Behörden und Gerichte Versammlungen auch unter diesen besonderen Bedingungen zulassen und die Grundrechtseinschränkungen wieder rückgängig machen, wenn die Pandemie unter Kontrolle ist.
Befürchten Sie, dass unsere Demokratie von den Auflagen tatsächlich gefährdet wird?
Man kann häufig beobachten, dass Krisen autoritäre Mittel stärken. Ob das hier der Fall sein wird, gilt abzuwarten. Man kann eine Tendenz bereits beobachten: Die Versammlungsfreiheit wird über das notwendige Maß eingeschränkt. Selbst wenn die Veranstalter Vorschläge machen, um die Infektionsgefahr auszuschließen, werden Versammlungen verboten. Das ist unverhältnismäßig. Die Wahrnehmung von Grundrechten muss immer möglich sein, gerade wenn die Regeln für Infektionsschutz eingehalten werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israel und Hisbollah
Waffenruhe tritt in Kraft