Antisemitismus in Deutschland: Tatort Straße
Antisemitische Angriffe haben in Deutschland traurige Kontinuität. Im Bereich extremer Gewalt haben die Fälle laut Meldestellen zuletzt zugenommen.
taz: Frau Hatlapa, Herr Steinitz, Anfang August ist ein Tourist aus Israel in Berlin angegriffen worden, mutmaßlich weil er auf Hebräisch telefoniert hat. Haben Sie neue Erkenntnisse in dem Fall?
Ruth Hatlapa: Uns liegen nach wie vor nur wenige Informationen zu dem Vorfall vor.
Wie schätzen Sie den Angriff ein?
Ruth Hatlapa: Eine eindeutige Einschätzung zu dem Fall können wir somit nicht vornehmen. Aber wir können das im Kontext der anderen antisemitischen Vorfälle, die wir dokumentieren, betrachten. Da kann man feststellen, dass antisemitische Angriffe in Berlin nicht alltäglich sind, aber wir sie doch als traurige Kontinuität erleben. 2022 haben wir 22 Vorfälle physischer Gewalt dokumentiert, darunter auch zwei Angriffe auf Personen, während sie Hebräisch sprachen.
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) ist in elf Bundesländern vertreten. In welchem Verhältnis stehen antisemitische Meldungen in Berlin im Vergleich zu anderen Bundesländern?
Benjamin Steinitz: In Berlin gab es letztes Jahr 848 bekannt gewordene Fälle, gefolgt von Bayern mit 422, Nordrhein-Westfalen mit 253 und Thüringen mit 237. Ansonsten ist das alles im zweistelligen oder knapp dreistelligen Bereich. Also es gibt hier schon eine sehr sichtbare Spitze des Eisbergs in Berlin.
Woran liegt das?
Steinitz: Berlin ist als Hauptstadt sowohl für jüdische Organisationen, die hier ihre Geschäftsstelle haben, aber auch für antisemitische Akteur*innen von besonderer politischer Relevanz. Und in Berlin sitzt mit acht Jahren die am längsten tätige Meldestelle von RIAS. Das Meldeaufkommen wird unter anderem dadurch beeinflusst, wie gut das Angebot vor Ort in jüdischen Communities oder bei potenziell Betroffenen bekannt ist und wie stark das Vertrauen zu der jeweiligen Meldestelle entwickelt wurde. Die regelmäßig im Jahresbericht des Bundesverbands hervorstechende Höchstzahl in Berlin ist deshalb so einzuordnen, dass die Bekanntheit der Stelle in Berlin im gesamten Bundesgebiet vermutlich am stärksten ausgeprägt ist.
Benjamin Steinitz ist Geschäftsführer des RIAS-Bundesverbands.
Ruth Hatlapaarbeitet als Projektreferentin von RIAS Berlin.
Welcher Trend lässt sich bei antisemitischen Vorfällen in Deutschland aktuell beobachten?
Steinitz: Ähnlich wie in Berlin hatten wir im Bundesgebiet auch einen leichten quantitativen Rückgang, was die Gesamtzahl angeht. Hingegen sind die Fälle von Gewalt konstant beziehungsweise haben bei extremer Gewalt sogar zugenommen. Das sind Fälle, die potenziell auch den Tod der Angegriffenen oder schwere, bleibende Verletzungen in Kauf nehmen. Im letzten Jahr gab es insgesamt neun Fälle von extremer Gewalt – das ist fast die Hälfte der Gesamtzahl von Fällen extremer Gewalt, die uns bekannt wurden, seitdem wir diese Erfassung machen.
Wie erfassen Sie diese Daten?
Hatlapa: Über unsere Internetseite www.report-antisemitism.de gibt es eine Meldemöglichkeit, wo man direkt alle Daten eintragen kann. Das wird dann entsprechend weitergeleitet. Man kann sich aber auch per E-Mail oder Telefon bei uns melden. Und wir pflegen direkten Kontakt zu verschiedenen Organisationen und ermutigen sie, Vorfälle zu melden.
Was zählt alles zu den antisemitischen Meldungen, die dann auch in den Jahresbericht eingehen?
Hatlapa: Wir nehmen sowohl strafbare antisemitische Vorfälle auf als auch diejenigen, die unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegen. Das umfasst ein weites Spektrum der Kategorisierung nach den Typen extremer Gewalt, Angriffe, gezielte Sachbeschädigungen, Bedrohungen und verletzendes Verhalten. Darunter fallen zum Beispiel antisemitische Äußerungen, die gegenüber Betroffenen gemacht werden, oder auch antisemitische Schmierereien, Aufkleber und Ähnliches. Und wir kategorisieren dann noch nach verschiedenen Erscheinungsformen.
Zum Beispiel?
Hatlapa: Zum Beispiel moderner Antisemitismus, israelbezogener Antisemitismus und Post-Schoa-Antisemitismus.
Steinitz: Besonders relevant ist außerdem der Onlinebereich. Ein Drittel der dokumentierten Vorfälle im Bundesgebiet ereignete sich online. Damit sind nicht antisemitische Äußerungen, die jemand auf seiner Seite veröffentlicht, gemeint, sondern wirklich gezieltes Anschreiben und Adressieren von jüdischen Personen in den sozialen Netzwerken.
Was kann man über die Täter*innen sagen?
Hatlapa: Wir erfassen Vorfälle aus allen politisch-weltanschaulichen Spektren, nach denen wir kategorisieren. Dazu gehört zum Beispiel rechtsextrem, rechtspopulistisch, verschwörungsideologisch, anti-israelischer Aktivismus, aber auch christlicher Fundamentalismus. Da die verschiedenen Erscheinungsformen von Antisemitismus spektrenübergreifend auftreten, ist eine eindeutige Zuordnung zu einem politisch-weltanschaulichen Hintergrund oft gar nicht möglich. 2022 konnten wir zum Beispiel weniger als die Hälfte der Vorfälle einem politisch-weltanschaulichen Hintergrund zuordnen und etwa 54 Prozent blieben politisch unerkannt.
Der Angriff auf den Touristen in Berlin ereignete sich auf offener Straße. Ist das typisch?
Hatlapa: Jenseits der Vorfälle im Internet ist die Straße der häufigste Tatort. Es gibt aber auch viele Fälle im öffentlichen Nahverkehr und im Wohnumfeld. Gerade das ist ein besonders sensibler Bereich, der sich auch stark auf das Sicherheitsempfinden von Betroffenen auswirken kann. Wenn zum Beispiel in der Nachbarschaft Vorfälle geschehen oder wenn die eigene Wohnung betroffen ist, ist das besonders gravierend. Es gibt kaum Räume, in denen erkennbare Jüdinnen und Juden vor Antisemitismus sicher sind. Man muss als traurigen Fakt festhalten, dass das überall passieren kann.
Wie können Politik und Verwaltung Antisemitismus effektiv entgegenwirken?
Steinitz: Es gibt in verschiedenen Bundesländern von den Strafverfolgungsbehörden Leitfäden zur einheitlichen Erfassung antisemitischer Straftaten, zum Beispiel in Berlin oder Bayern. Das sind gute Instrumente, um sowohl Polizei und Staatsanwaltschaft zu verdeutlichen, nach welchen Maßgaben agiert werden soll.
Im Einzelfall stellen wir trotzdem immer wieder fest, dass Polizeibeamte oder Staatsanwälte die Vorgaben nicht immer berücksichtigen. Das ist eine Herausforderung, die Instrumente, die in einigen Bundesländern etabliert wurden, auch in der Breite in den Behörden zu verankern.
Was kann jede*r Einzelne tun?
Steinitz: Wir nehmen häufig in öffentlichen Debatten wahr, dass offizielle Stellen wie Behörden oder Schulen antisemitische Erfahrungen als subjektiv und überzogen zurückweisen. Jeder und jede – in welcher Funktion auch immer und sei es nur als Privatperson – sollte sich bewusst machen, dass die Anerkennung des Erlebten schon ein wichtiger Schritt ist, um überhaupt das Problem gemeinsam und für die Betroffenen stärkend zurückzudrängen.
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