Antiästhetischer Rap aus Berlin: In die Hose kacken mit Awareness
Die Berliner HipHop-Crew Tiefbasskommando stochert mit ihrem neuen Album „Retox“ im Trüben. Musikalisch ist das Klassen besser als der Mainstreamrap.
Wie viel Gegenkultur steckt überhaupt noch im Deutschrap? Gegenfrage: Wer kennt das Berliner Rap-Kollektiv Tiefbasskommando?! Die sechsköpfige Crew ist die schrill tönende Antwort auf die erste, diese ewige Frage, denn ihre Songs navigieren virtuos in den Untiefen zwischen Untergrund und Mainstream.
Tiefbasskommando bestehen aus der Rapperin $hoki und ihren Kollegen Eisberg, Double G, Don Juan und MC Kneipenkrieger; federführend für den Sound ist Produzent Retado. Sie sind inzwischen auch als Headliner erfolgreich und gehen auf die großen Bühnen, zum Beispiel beim Splashfestival.
Und das, obwohl kaum etwas über die Künstler:innen von Tiefbasskommando bekannt ist. Mit „Retox“ veröffentlichten die sechs ihr viertes Album und wieder polarisieren Musik und Reime. Gleich beim Auftakt „Rockstar Energie“ wird klar, warum die Lieder des Tiefbasskommandos nicht im Radio gespielt werden oder auf den populären Playlisten der Streamingdienste landen.
Textlich ecken die Berliner an, zumindest in der sogenannten Mitte der Gesellschaft: „Tiefbasskommando, wie ein Totalschaden, haben wir ein Rad ab / Wir sind verkatert, gehen Montag zur Arbeit“, heißt es einmal. „Kleine Nasen (Kokain), kleine Pimmel / ja es sind die kleinen Dinge, auf die ich gut verzichten kann / Ich mag es groß und ich mag es lang“, rappt $hoki im Song „Na Klar! 2“ und man denkt unweigerlich an das Delirium beim Münchner Oktoberfest, wo immer mehr Kokain konsumiert wird.
Roh und ungefiltert
Zwischen Stumpfsinn und höherem Blödsinn gelingt dem Tiefbasskommando meist die Gratwanderung. Die Beteiligten kennen sich schon seit der Kindheit. Ihr Handwerk haben sie bei Freestyle-Rapsessions, in besetzten Häusern in Leipzig und Berlin verfeinert. Gerade die Musik von „Retox“ betört, weil sie roh und ungefiltert klingt.
Tiefbasskommando: „Retox“ (Downtown Destruction Production); Tour: 30. 11. „Tante JU“ Dresden; 2. 12. „Docks“ Hamburg; 7. 12. „Musikzentrum“ Hannover, geht weiter
Weder finden sich makellos abgemischte Tunes noch Autotune-Effekte oder entspannte Trap-Elemente. Die Derbheit der Reime erinnert an die Anfangstage der Berliner Crew K.I.Z.: „Hack’ das Koki bis die Karte knackt / Schnell aufs Klo fast eingekackt / Suchen uns ’ne ruhige Ecke, / Ich hol Knüppel aus dem Sack“, rappt Double G im Track „Landlord“. Es ist ein Blick in die Abgründe der Sucht.
Zynische Drogenverherrlichung und übersteigerte Obszönität treffen auf Gesellschaftskritik und subkulturelle Referenzen. Sehr bewusst wird Antiästhetik eingesetzt, um sich vom Mainstream abzugrenzen. Das erinnert an den Turpismus, eine Bewegung in der Literatur, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufkam und unter polnischen Schriftsteller:innen populär war.
Autoren wie Ernest Bryll und Stanisław Grochowiak waren bekannt dafür, in ihren Werken das Hässliche zu glorifizieren. So ähnlich geht auch das Tiefbasskommando vor und agiert bei allem Brachialen durchaus stilvoll die Kontroverse in der künstlerischen Freiheit aus: „Wir sind die Rapversion der Zeichentrickserie ‚South-Park‘. Wir provozieren, aber wir diskriminieren niemals. Wir haben Songs aus dem Programm genommen, wenn wir das Gefühl hatten, eine Grenze überschritten zu haben“, erklärt Retado der taz.
In seiner Jugend hat er in einer Punkband gespielt. „Im Roman ‚Homo Faber‘ von Max Frisch geht es auch um Inzest, trotzdem wird das Buch in der Schule gelesen“, ergänzt Don Juan.
Subkulturelle Strömungen
Es ist ein Spagat zwischen der künstlerischen Radikalität und den Massenströmungen der Musikindustrie, die die Tracks von Tiefbasskommando abstoßend und reizvoll zugleich klingen lassen. Provokation ist im Deutschrap ein beliebtes Stilmittel, aber so konsequent kaputt wie bei Tiefbasskommando klang es noch nie.
Musikalisch mischen sich auf „Retox“ klassischer Westberlin-Battlerap, Detroit-Electro, Hyperpop, US-Südstaaten-Crunksound, 8-Bit-Nintendo-Soundstracks und Hardstyle. Das spiegelt die Offenheit der Gruppe für unterschiedliche subkulturelle Strömungen wider.
Diese Experimentierfreude gelingt besonders in dem Song „$hoki“, der auch gut auf einen Technorave passen würde. In dem Track rappt das weibliche Mitglied über sich und seine sexuellen Vorlieben, wie es Rap-Legenden aus den USA wie Lil’ Kim und Gangsta Boo vorgemacht haben. Für die Berlinerin ist es eine Umkehrung der Machtverhältnisse: „Männer rappen darüber, wie eine Frau auszusehen hat, dann sage ich eben auch, worauf ich bei Typen stehe“, erklärt sie der taz.
Die drastische Darstellungsform, die auch an Videogames, mexikanische Superhelden-Comics und Showcatchen erinnert, führt Tiefbasskommando in seinen Clips und Outfits weiter: „Wir tragen Masken, weil wir Charaktere sind“, erklärt $hoki. Das hilft dabei, die Künstler:innen von den Menschen hinter den Masken zu trennen. „Wir sind eigentlich nicht die geborenen Rampensäue“, fügt Retado hinzu.
Und trotzdem, ab Ende November geht das Kollektiv auf Tour, natürlich mit Masken und Awarness-Team. Das ist auf Mainstreamkonzerten keine Selbstverständlichkeit. Tiefbasskommando zeigt, dass dem HipHop-Baum ein neuer Ast gewachsen ist, der bisher noch keinen Namen hat.
Hörer:innen können die Gruppe als wichtige Stimme für soziale Veränderungen sehen, während andere sie als kontrovers, ja sogar destruktiv betrachten. Das klassische Dilemma von Rapper:innen, die bewusst außerhalb der Normen operieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands