Anschlagsserie in Waldkraiburg: „Einsamer Wolf“ in Oberbayern
Waldkraiburg ist beschaulich, freundlich und divers. Die Anschläge auf türkischstämmige Gewerbetreibende hingegen verunsichern die Gemeinde.
„Open“ verkündet das rot leuchtende Schild über der Tür. Das Glas der Tür ist gesprungen. Die beiden eingeworfenen Fensterscheiben daneben sind provisorisch mit Pappe und blauem Klebeband abgedeckt. Im Fenster hängt noch der Fahndungsaufruf mit dem Hinweis auf die Belohnung von 3.000 Euro. Sie war Ende April ausgesetzt worden. Das war noch, bevor Çavuş am 6. Mai das vierte Opfer der Anschlagsserie von Waldkraiburg wurde.
„Es war ein Schock, als ich das hier gesehen habe“, erzählt Çavuş. Und dass es hier um mehr ging als um ein paar eingeworfene Fensterscheiben und eine undefinierbare Flüssigkeit, die jemand in seinen Laden gekippt hatte, war offensichtlich: Um sieben Uhr in der Früh hatten Polizeibeamte ihn aus dem Bett geklingelt, jetzt standen sieben, acht Polizeiwagen vor dem Imbiss. Die Spurensicherung war da, sogar Spürhunde. „Ich hab mich gefragt: Wo bin ich, was ist los?“ Sogar der Polizeipräsident war gekommen und der Oberstaatsanwalt. Und der türkische Generalkonsul.
„Ich bin multikulti“, sagt der freundliche 48-Jährige von sich, zwischen Baseballmütze und Mundschutz funkeln die kleinen Augen. Geboren wurde Çavuş in der Türkei, seit 1991 lebt er in Deutschland. Seine Frau ist Deutsche. Auf dem verwaschenen Kapuzenpulli, der sich über dem Bauch ein wenig spannt, steht: „Originals US State College – Athl. Dept.“
27-facher Mordversuch
Çavuş wohnt in Burgkirchen, pendelt jeden Tag rund 40 Kilometer nach Waldkraiburg. Vor neun Monaten hat er das Geschäft übernommen. Eigentlich wollte er demnächst mit seiner Frau und der achtjährigen Tochter nach Waldkraiburg ziehen, doch da macht seine Frau jetzt nicht mehr mit.
Vorausgegangen waren dem Angriff auf das Kebaphaus drei weitere Anschläge. Erst wurden die Scheiben eines Friseurladens eingeschlagen, kurz darauf die eines Pizzalieferservices. Auch in diesen beiden Fällen wurde eine übelriechende Flüssigkeit in den Laden gespritzt. Der Sachschaden war überschaubar, die Aufregung auch. Doch dann, in der Nacht auf den 27. April, brannte der Gemüseladen am Sartrouville-Platz. Es war 2 Uhr. Nur weil einer der 27 Bewohner im Haus darüber noch wach war und sofort Alarm schlug, konnte das Schlimmste verhindert werden. Von 27-fachem versuchtem Mord spricht die Staatsanwaltschaft.
Die Inhaber aller drei Geschäfte waren türkischstämmig. Dass ein Zusammenhang zwischen den Taten bestand, drängte sich auf. Steckte Rassismus hinter den Taten, waren sie gegen Muslime gerichtet? Die Spekulationen sprießen, so ging auch das Gerücht um, die undefinierbare Flüssigkeit sei Schweinekot gewesen.
Ausgerechnet Waldkraiburg! Die Stadt präsentiert sich selbst als Paradebeispiel für funktionierendes Multikulti. 25.000 Menschen aus über 100 Nationen leben heute hier, 5.000 von ihnen besitzen einen ausländischen Pass. „Wir akzeptieren uns, wir respektieren uns“, sagt Robert Pötzsch, „wir laden uns gegenseitig ein, es gibt immer wieder gemeinsame Gebete. Deshalb war das ja auch die große Frage: Warum hat es diese Anschläge gegeben?“ Der gelernte Bäcker ist seit 2014 Erster Bürgermeister der Stadt. Von den schmucken alten Bauten, in denen so viele seiner bayerischen Amtskollegen residieren, kann Pötzsch nur träumen. Sein Rathaus ist ein grauer Betonklotz aus den Siebzigern.
Alt ist hier ohnehin nichts in Waldkraiburg. Der Ort wurde erst nach dem Krieg aufgebaut – auf den Bunkern, in denen die Nazis mitten im Wald Munition produzieren ließen. Ein paar Tausend Vertriebene fanden hier eine neue Heimat. Später dann kamen die Gastarbeiter, die Spätaussiedler, die Stadt wuchs und wuchs. Und war immer Migrationsmagnet.
Und dann machte plötzlich jemand Jagd auf „Türken“.
„Unser erster Gedanke war natürlich: Das waren Rechtsradikale“, erzählt der Waldkraiburger Hartmuth Lang, der sich in dem landkreisweiten Netzwerk „Mühldorf ist bunt“ engagiert. Im Landkreis, vor allem im nahen Mühldorf, habe es in den vergangenen Jahren immer mehr entsprechende Angriffe gegeben. Das sei von islamfeindlichen Aufklebern auf Schaufenstern über Steinwürfe gegen Geschäfte bis hin zu einem Schweinekopf gegangen, der sich vor knapp zwei Jahren an der Türklinke eines orientalischen Lebensmittelladens gefunden habe. „Und da war zunächst das Gefühl: So, das ist jetzt die nächste Eskalationsstufe.“
Dazu kam ein politischer Rechtsruck in der jüngsten Vergangenheit. Bei der Bundestagswahl 2017 holte die AfD in Waldkraiburg 19,9 Prozent, bei der Landtagswahl 2018 waren es 19,2, und bei der Kommunalwahl im März zog die Partei erstmals mit drei Leuten in den Stadtrat ein. „Und die AfD fährt hier in allen Wahlkämpfen eine ausgesprochen antimuslimische Strategie“, sagt Adelheid Kückelhaus, die ebenfalls bei „Mühldorf ist bunt“ aktiv ist.
Zufälliger Ermittlungserfolg
Wenige Tage nach dem Brand organisierte das Netzwerk eine Mahnwache vor der Ruine des Gemüseladens. „Es ging uns darum, den Betroffenen unsere Solidarität zu zeigen“, sagt Lang. „Da war natürlich unter den türkischen Mitbürgern eine Riesenangst.“ Die Polizei ermittelte indes auf Hochtouren, setzte eine zuletzt 50-köpfige Soko ein.
Doch die entscheidende Festnahme war dann ein Zufallstreffer – und eine Überraschung. Am Bahnhof von Mühldorf kontrollierten Bundespolizisten am 8. Mai einen 25-jährigen Mann, der zuvor schwarzgefahren war. Ein Deutscher kurdischer Abstammung, der aus der Nähe von Waldkraiburg stammt. Im Trolley des Mannes entdeckten die Beamten zehn funktionsfähige Rohrbomben.
Als Muharrem D. hat das Oberbayerische Volksblatt den festgenommenen Mann identifiziert, der sich selbst nach Polizeiangaben als „Bombenleger von Waldkraiburg“ tituliert. Erst vor ein paar Wochen soll er in die Wohnung in Waldkraiburg gezogen sein. „Unauffälliger Typ“, werden die Nachbarn zitiert, hat immer freundlich gegrüßt. Der nächste Anschlag, sagen die Ermittler, wäre nur eine Frage der Zeit gewesen. Als Motiv nannte D. Hass auf Türken, berichtete aber auch, dass er sich dem Islamischen Staat habe anschließen wollen.
Die Polizei sieht in D. einen „einsamen Wolf“. Auch Bürgermeister Pötzsch, der die ganze Zeit engen Kontakt mit den Ermittlern, aber auch mit der türkischen Gemeinde hält, sagt: „Ich gehe schwer davon aus, dass es ein Einzeltäter war.“ Das Wichtigste aber ist ihm: „Wir müssen jetzt schauen, dass wir als Stadt zusammenhalten.“
Zweifel an Einzeltätertheorie
Hasan Çavuş hat in den Tagen nach dem Anschlag auf seinen Imbiss viele Anrufe bekommen. Menschen, die einfach nur ihre Solidarität zum Ausdruck bringen wollten. Sogar der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu war darunter, erzählt Çavuş, und habe sich nach seinem Befinden erkundigt. Mit „Hasan Abi“, also „großer Bruder Hasan“, habe er ihn angeredet. Dabei sei doch der Minister der Ältere.
Aber die große Erleichterung hat sich bei Çavuş nicht eingestellt. „Irgendwie kommt mir alles komisch vor“, sagt er. Vor allem mag Çavuş die Einzeltäterthese nicht glauben: „Hundertpro war da noch jemand dabei.“ So habe ein Nachbar des Imbisses in der Nacht des Anschlags drei Männer in Richtung Bahnhof weglaufen sehen. Außerdem: Wie solle der Mann allein zwei große Steine und den Kanister mit der ominösen Flüssigkeit getragen haben? Es sind noch viele Fragen offen. Auch diese: „Warum hat er keine Bomben benutzt, wenn er so viele hatte? Wieso soll ich auf einem Esel reiten, wenn ich einen Mercedes vor der Tür habe?“
Am Tag nach dem Anschlag ist Çavuş erst mal nur nach Hause gegangen. „Ich war fix und fertig. Aber am nächsten Tag habe ich wieder aufgemacht. Ich wollte zeigen: Ich bin noch da. Ihr habt mich nicht kleingekriegt.“
Am Montag um 10.30 Uhr kommt der Glaser.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball