Anja Maier über die Generaldebatte im Bundestag: Kreml-Astrologie
Wegen Diktatur-Verdachts ist es ja nicht gern gesehen, wenn das Gebaren deutscher SpitzenpolitikerInnen mit dem ihrer KollegInnen in der verblichenen DDR verglichen wird. Deshalb also schon mal vorsorglich: Ja, die DDR war kein Rechtsstaat, die Bundesrepublik ist einer. Nun aber zum Vergleich.
Um Angela Merkels Rede vom Mittwochmorgen inhaltlich durchdringen zu können, bedarf es mittlerweile einer Zusatzausbildung in Kreml-Astrologie. Die Arbeitssprache dieser Kanzlerin ist ein tief verzweigtes Dickicht, in das man ihr aus der hellen Sonne des klaren einleuchtenden Satzes ungern folgen mag. Das ist ein Problem.
Jetzt, da die Stimmung im Lande so gespalten ist, denkt und spricht Angela Merkel noch komplexer als sonst. Eben noch baldowert sie mit ihrem verfeindeten Innenminister ein Papier aus, das Menschen auf der Flucht mit einem juristischen Sprachtrick zu Fiktionen erklärt; die mehrheitlich demokratische Mitte dieses Landes ist deshalb komplett auf der Palme. Und wenn sie zwei Tage später als Regierungschefin ans Pult tritt, zieht sie gemächlich ihre immer gleiche rhetorische Runde.
Verlässlichkeit wirkt dann unangemessen, wenn sie den virulenten Konflikt hoheitsvoll unter „ferner liefen“ abzuhandeln versucht. Eine Haltung klar und verständlich vorzutragen ist auch eine Frage des Respekts.
Nein, Angela Merkel ist nicht respektlos. So tickt sie nicht. Aber schaut man nach ihrer 29-minütigen Rede in ihre Notizen, findet sich da kaum Fühlbares. Statt über Menschen redet die Kanzlerin über künstliche Intelligenz, über Konzernbesteuerung und Handelsbilanzen. Sie ist eben gründlich und fleißig. Sie macht die ganze Arbeit, während Populisten wie Seehofer und Weidel lieber Affekte bedienen.
Sehr wahrscheinlich hat Angela Merkel mit vielem recht. Man versteht sie aber leider nicht, sondern muss – wie dunnemals im Neuen Deutschland – zwischen den Zeilen lesen. Hier ein anderer Zungenschlag, dort eine unterlassene Erwähnung, dann wieder eine vorsichtige Andeutung. In Zeiten wie diesen ist das nicht genug.
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