nahost
:

Ein Spiel ohne Grenzen

Nach den gezielten Tötungen von Anführern der Hisbollah und der Hamas droht eine weitere Eskalation in Nahost. Die Aktionen zeigen, dass in der Region alles mit allem zusammenhängt

Aus Beirut Karim El-Gawhary

Möchte man die Ereignisse der Nacht vom Dienstag und die frühen Morgenstunden am Mittwoch zusammenfassen, könnte man im Fußball-Jargon resümieren: 2:0 für den israelischen Premier Benjamin Netanjahu. Am Abend schlug die israelische Armee in Beirut zu, um Fuad Schukr zu treffen, einen der wichtigsten militärischen Führer der Hisbollah. Schukr saß im sogenannten Dschihad-Rat der Hisbollah, dem höchsten militärischem Gremium – dort werden die relevanten militärstrategischen Entscheidungen der Organisation gefällt. Dann, in den Morgenstunden, die „außergerichtliche Tötung“ des politischen Führers der Hamas Ismael Hanijeh in Teheran: ein Angriff, der den vorherigen Militärschlag noch in den Schatten stellt.

Ob Netanjahu damit für mehr Sicherheit für Israel gesorgt hat, ist zweifelhaft. Das Spiel ist noch nicht abgepfiffen, um im Bild zu bleiben. Sowohl die Hisbollah als auch die Hamas haben eine Antwort angekündigt. Je nachdem, wie diese ausfällt, wird sich zeigen, ob die gezielten Tötungen in der Nacht den Beginn einer weiteren Eskalation in der Nahostregion darstellen. Schließlich haben auch die Huthis im Jemen und der Iran, der alle drei Organisationen sponsert und auf dessen Boden der Anschlag gegen Hanijeh stattgefunden hat, ihrerseits Reaktionen angekündigt. Diese müssen nicht unbedingt in den nächsten Stunden und Tagen folgen.

Klar ist, dass vor allem die Hamas nach dem Tod ihres Anführers Hanijeh in einem Schockzustand ist. Viel Spielraum um zu reagieren, hat sie nicht, da sie sich angesichts der israelischen Offensive im Gazastreifen in einem existenziellen Kampf befindet. Allerdings beschränkt sich der Einfluss der Hamas nicht auf den Gazastreifen. Möglich ist, dass sie wieder zu einem Mittel greift, mit dem sie Anfang der 2000er Jahre in Erscheinung trat, und es innerhalb Israels wieder Anschläge geben wird. Darüber hinaus ist nicht nur die Hamas, sondern sind auch viele Palästinenser über Israels Vorgehen wütend. Diese Wut könnte sich in Unruhen im Westjordanland oder in Ostjerusalem entladen. Und das sind nur die kurzfristigen Folgen dieser einen Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Alle Akteure denken darüber hinaus langfristig und strategisch

Für die Hamas wird sich wenig ändern. Bereits vor 20 Jahren hat Israel den damaligen politischen Führer und Gründer der Organisation, Scheich Jassin, kurz nach seiner Befreiung aus israelischer Haft mitten in Gaza ermordet. Der Hamas hat das schon damals keinen nachhaltigen Schlag versetzt. Der nun ermordete Hanijeh wurde Nachfolger von Scheich Jassin – und genauso wird sich auch für ihn wieder ein Nachfolger finden. Die Hamas als Organisation und als islamistisch gefärbte Ideologie ist in den 1980er Jahren als Reaktion auf die israelische Besatzung des Gazastreifens, der Westbank und Ostjerusalems entstanden. Es wird sie so lange geben, wie die Bedingungen fortbestehen, die ihre Existenz begründet haben.

Paradoxerweise könnte die Ermordung Hanijehs zu einem Ende der israelischen Offensive im Gazastreifen führen. Netanjahu hat immer wieder verkündet, sein Kriegsziel sei ein totaler Sieg über die Hamas und deren Zerstörung. Zwar war dieses Ziel nie realistisch: Wo auch immer die israelische Armee sich in Gaza zurückzieht, taucht die Hamas wieder auf. Dazu befördern die vielen Toten nur neuen Hass.

Grobe Präzision: Mit einem gezielten Raketenbeschuss auf ein Wohnhaus im Süden von Libanons Hauptstadt Beirut, tötete Israel den Hisbollah-Kommandeur Foto: Mohamed Azakir/ap

Doch nun hat Netanjahu den dringend benötigten Erfolg, der ihm trotz der Zerstörung weiter Teile des Gazastreifens bisher verwehrt wurde. Er könnte Hanijehs Tod als erfolgreiche Antwort Israels auf den Hamas-Angriff vom 7. Oktober darstellen und den Krieg in Gaza gesichtswahrend beenden. Das größte Problem dabei ist: Netanjahu brauchte Hanijeh vor allem für einen Deal, um die verbliebenen israelischen Geiseln im Gazastreifen zu befreien. Mohammed bin Abdulrahman Al Thani, der Premierminister von Katar, der bisher immer als Vermittler zwischen Israel und der Hamas aufgetreten ist, hat das vielleicht am deutlichsten ausgedrückt: „Wie kann man auf den Erfolg von Vermittlungen hoffen, wenn eine Seite den Verhandlungsführer der anderen Seite einfach tötet“, fragt er. Die Hamas wird nun zumindest kurzfristig ihre Position verhärten und sich wahrscheinlich aus allen Verhandlungen zurückziehen. Aber am Ende steht auch die Hamas unter Druck, den Krieg zu beenden.

Die größte Gefahr liegt darin, dass die Lage in den nächsten Tagen und Wochen an allen Fronten so eskaliert, dass ein Punkt erreicht wird, an dem sich das alles nicht mehr eindämmen lässt und es kein Zurück mehr gibt. Denn nun steht die nächste Runde an. Der Hisbollah-Militärstratege Fuad Schukr war streng genommen ein militärisches Ziel. Damit hat sich Israel noch an die ungeschriebenen Regeln gehalten, die seit dem Ende des Libanonkriegs zwischen der Hisbollah und der israelischen Armee gelten: Ein militärisches Ziel für ein militärische Ziel. Natürlich kamen auf beiden Seiten in den vergangenen Jahren immer wieder Zivilisten zu Schaden, wie bei dem Angriff am vorigen Samstag auf das Dorf Madschdal Schams, bei dem zwölf Kinder starben. Aber das waren bisher die Ausnahmen, die die Regel bestätigten.

Als Antwort auf den Schlag in Beirut hätte die Hisbollah wahrscheinlich ebenfalls ein militärisches Ziel tief in Israel ins Visier genommen. Die militärischen Fähigkeiten dazu hat sie. Doch mit der Ermordung Hanijehs ändert sich die Kalkulation. In ihrem Selbstverständnis ist die Hisbollah ein Teil der „Achse des Widerstands“ gegen Israel, und damit eng mit der Hamas verbunden. Das wird nun auch in die militärische Antwort einfließen. Eines haben die beiden Militärschläge gegen die Hisbollah in Beirut und gegen die Hamas in Teheran wieder einmal mehr als deutlich gemacht: Im Nahen Osten hängt alles mit allem zusammen. Und genau darin steckt jetzt die enorme Eskalationsgefahr.