Der Nahe Osten hält erneut die Luft an

Nach dem Raketeneinschlag auf den Golanhöhen droht Israel, den Krieg gegen die libanesische Hisbollah auszuweiten. Der Iran warnt seinerseits vor „Konsequenzen“

Aus Tunis und Beirut Mirco Keilberth
und Julia Neumann

Nach dem Raketeneinschlag auf das drusische Dorf Madschd­al Schams auf den israelisch besetzten Golanhöhen ist die Angst im Libanon groß, das Israel als Reaktion seine Angriffe auf die Hauptstadt Beirut und zivile Infrastruktur im Libanon ausweiten könnte. „Die Madschd­al-Schams-Rakete wird den gefährlichsten Wendepunkt im Verlauf der libanesisch-israelischen Konfrontation darstellen“, kommentierte die libanesische christlich-liberal ausgerichtete Tageszeitung An-Nahar am Sonntag.

Bei dem Einschlag einer Rakete auf dem Fußballplatz der Kleinstadt Madschdal Schams waren am Samstagnachmittag 12 Menschen im Alter zwischen 10 und 20 Jahren ums Leben gekommen. Mindestens elf wurden zum Teil schwer verletzt. Der Ort liegt auf den Golanhöhen, die im Jahr 1981 von Israel annektiert wurden und von der Minderheit der Drusen bewohnt werden; die meisten von ihnen besitzen die syrische Staatsbürgerschaft.

Nach internationalem Recht gehört die hügelige Region zu Syrien. Dort, wie entlang des gesamten Grenzverlaufs zum Libanon, schlagen seit dem 7. Oktober 2023, dem Hamas-Überfall auf Israel und dem daraus folgenden Gazakrieg, immer wieder Raketen der libanesischen Hisbollah-Miliz und ihrer Verbündeten ein. Die israelische Armee überwacht mithilfe ihrer sieben Kilometer vom Einschlagsort entfernten Militärbasis auf dem Berg Hegmon die vom Iran unterstützten Milizen in Syrien und Libanon. Ob Madschd­al Schams durch eine fehlgeleitete Rakete der Hisbollah oder einer aus iranische Produktion getroffen oder absichtlich beschossen wurde, ist noch unklar. Viele fürchten jedoch, der Angriff könnte einen direkten Krieg zwischen Israel und dem Libanon auslösen.

In der Nacht zu Sonntag griff Israels Armee verschiedene Dörfer im Libanon an, hauptsächlich im Süden, rund 25 Kilometer von der gemeinsamen Grenze entfernt, in der Nähe der Küstenstadt Tyros. Israels Luftwaffe teilte mit, sie habe unter anderem Waffenlager und Infrastruktur der Hisbollah getroffen. Dabei sollen mehrere Bewohnende verletzt worden sein. Die libanesische Zeitung L’Orient – Le Jour berichtete, bei Angriffen der israelischen Luftwaffe auf das Dorf Kfar Kila seien vier Menschen getötet wurden. Ein weiterer Angriff ereignete sich weiter im Landesinneren, auf ein Dorf nahe Baalbek, etwa 90 Kilometer von der Grenze entfernt.

Israels Reaktion ist nicht der lange erwartete Großangriff gegen den Libanon, sondern bleibt bisher im Rahmen der tagtäglichen gegenseitigen Angriffe der vergangenen Monate. Das israelische Militär hatte bereits mehrfach in der östlichen Bekaa-Ebene angegriffen, das weit von der Grenze entfernt liegt. Im Januar tötete das israelische Militär mit einem gezielten Angriff zudem den Hamas-Anführer Saleh al-Aruri in Beirut.

Israels Regierung erklärt, die Hisbollah habe „alle roten Linien überschritten“

Vor dem 7. Oktober galten die sogenannten „Rules of Engagement“, gemeinsame Absprachen über rote Linien im Konflikt. Diese wurden seitdem militärisch ausgehandelt, kalkuliert und ausgeweitet. Der Raketenangriff auf Madschdal Schams bricht damit.

Die Hisbollah bestreitet jedoch, für den tödlichen Angriff auf die Kleinstadt verantwortlich zu sein und dadurch eine weitere Eskalation in Kauf genommen zu haben. „Die Hisbollah bekräftigt, dass sie in keiner Weise mit dem Vorfall in Verbindung steht und weist alle falschen Behauptungen in diesem Zusammenhang nachdrücklich zurück“, hieß es in einer Pressemitteilung. Sie verweist auf Ghaleb Seif, Leiter einer drusischen Organisation auf den annektierten Golanhöhen, der erklärt habe, dass es sich bei den Raketen, die auf dem syrischen Golan und in Galiläa einschlugen, um israelische Abfang­raketen handele. „Jeden Tag sehen wir, wie Iron-Dome-Raketen ihre Ziele verfehlen und schließlich auf uns fallen.“

Videos zeigen tatsächlich den Einschlag von sogenannten Tamir-Flugkörpern in den Hügeln rund um den 11.000-Einwohner-Ort. Diese hatten aus dem Libanon kommende Geschosse verfehlt. Doch Augenzeugen berichten von einem zischenden Geräusch des Geschosses, ähnlich wie bei anderen Angriffen aus dem Libanon.

Der Sprecher der israelischen Armee, Daniel Hagari, machte am Samstagabend die Hisbollah für das Massaker verantwortlich und lokalisierte den südlibanesischen Ort Chebaa als Abschussort der Rakete. Es sei der blutigste Angriff auf Israel seit dem 7. Oktober, so Hagari. Israels Außenministerium erklärte, die Hisbollah habe mit dem tödlichen Angriff „alle roten Linien überschritten“.

Israels Verteidigungsminister Joav Galant kündigte noch am Samstagabend eine entschiedene Antwort der Armee an, die sich „im Ausmaß deutlich von den bisherigen Maßnahmen unterscheiden werde“. Am Sonntag evakuierte die Hisbollah bereits einige ihrer Stellungen und Einrichtungen in Beirut. Wie ernst sie die Gefahr eines massiven israelischen Gegenschlages nimmt, lässt sich aus den vielen Dementis ablesen, die seit Samstag auf verschiedenen Kanälen verbreitet werden.

Trauer um die 12 toten jungen Menschen: Szene aus Madschdal Schams am Sonntag Foto: Leo Correa/ap

Die libanesische Regierung rief ebenso wie viele Stimmen der internationalen Gemeinschaft beide Seiten zu Mäßigung auf. Der Iran warnte Israel vor den „Konsequenzen“ eines neuen militärischen „Abenteuers“ im Libanon. Israel werde für „die unvorhergesehenen Konsequenzen und Reaktionen auf solch dummes Verhalten“ verantwortlich sein, sagte Außenministeriumssprecher Nasser Kanani am Sonntag.

Militärisch sind Israels Verteidigungsstreitkräfte (IDF) der Hisbollah zwar weit überlegen. Doch in dem hügeligen und bewaldeten Grenzgebiet konnte die wie eine Armee organisierte Miliz zahlreiche Verstecke und Hinterhalte anlegen. Doch auch für die Hisbollah ist ein Landkrieg gegen die IDF existenzgefährdend – zumal deren Rückhalt in der libanesischen Bevölkerung seit Jahren sinkt. Israel könne den Libanon im Kriegsfall „in die Steinzeit ­zurückbomben“, drohte Galant bereits im Juni. Im Libanon zweifeln daher viele, ob es tatsächlich im Interesse der Hisbollah sein könne, drusische Zivilisten auf den israelisch besetzten Golanhöhen anzugreifen.

Während Israels Premier Benjamin Netanjahu seinen USA-Besuch am Wochenende vorzeitig beendete und zurück nach Tel Aviv flog, wurde am Samstag auch aus Gaza eine neue Attacke gemeldet: Bei einem israelischen Luftangriff auf eine Schule in Deir al-Balah wurden mehr als 30 Menschen getötet. Sie hatten in dem Gebäude Zuflucht gesucht. In dem völlig zerstörten Gebäude suchten Freiwillige auch am Sonntag nach Opfern.