Angepackt: Crashkurs in humanitärer Hilfe
Eigentlich wollten meine Mitbewohnerin und ich nur schnell Spenden zum LaGeSo in Berlin-Moabit bringen, aber als wir das Chaos und das Leid sahen, konnten wir nicht einfach wieder gehen. Da waren Kinder ohne Schuhe, Kranke, Minderjährige, Wütende, Flehende, Panische und ganz Stille. Ich sah Menschen, die nichts hatten und Menschen, die alles gaben. Und wir wollten auch geben, also blieben wir.
Einen Tag, eine Woche, zwei Wochen. Ich hob zwei Tage lang Müll auf, dann wechselte ich zum Wasserstand und schließlich kümmerte ich mich um die konkreten Probleme der Menschen. Auf einmal standen Orte wie Kobane oder Mogadishu, die ich nur aus dem Fernsehen kannte, direkt vor mir, auf einmal hatten sie Namen, Gesichter und Geschichten. Ich lernte, die unterschiedlichen Formulare zu deuten, etwas Arabisch zu sprechen, anzupacken und auf die Menschen zuzugehen, ihnen zuzuhören.
Es war ein Crashkurs in humanitärer Hilfe, der uns mental und körperlich an unsere Grenzen brachte. Die 15-Stunden-Schichten in Rekordtemperaturen, die medizinischen Notfälle, die Obdachlosen am Abend, die Bilder des Tages ließen uns tagsüber nicht essen und nachts nicht schlafen. Und doch zog es uns immer wieder nach Moabit, wo wir uns jedes Mal schworen, nicht wieder bis abends zu bleiben. Ich nahm Helfer in den Arm, die sich weinend hinter einem Baum versteckten, und ich ließ mich in den Arm nehmen, wenn ich nicht mehr konnte. Manchmal trösteten mich Geflüchtete. Ich war unfassbar ergriffen und gleichzeitig absolut wütend.
Der Frust über das Versäumnis der Verantwortlichen, Klarheit und Fokus in die Situation zu bringen, stieg mit jeder Minute, in der man über sich selbst hinauswuchs. Warum war hier kein Arzt, warum kein Zelt, warum wurden diese Hilfesuchenden so behandelt? Was ich am LaGeSo und in den Notunterkünften erlebt habe, hat mich als Mensch verändert. Ich habe gesehen, was die Zivilbevölkerung schaffen kann – und das vorbei an einem Senat, der so schnell agiert wie ein alter Kaugummi unterm Tisch.
Als uns die Arbeit vor Ort zu viel wurde, als mein erschöpfter Körper mich zu etwas Ruhe zwang, nahmen wir junge obdachlose Männer aus Afrika bei uns nach Hause auf. Und auch wenn diese Erfahrungen nur schwer zu verarbeiten sind, möchte ich sie nicht missen. Denn genau jetzt haben wir als Generation und Gesellschaft die Möglichkeit, zu beweisen, dass wir mit Verstand und Herz handeln, dass wir weltoffen sind und Fremdenfeindlichkeit nicht akzeptieren. Die Menschen vom LaGeSo sind für mich schon lange keine Fremden mehr, es sind Freunde, die auf ihrem Weg in ein sicheres Leben auch mich berühren. Dafür bin ich dankbar. Jule Müller
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