„Angekommen – Flüchtlinge erzählen“: Ich bin keine schwache Frau
Wir verließen das Haus in Tunesien, ohne uns von meinen Söhnen zu verabschieden. Niemand dachte damals, dass ich für immer gehe.
Ich ging im Park spazieren, als ich ihn sah. Erst wusste ich nicht, ob er echt war – oder nur ein Phantom, das aus der Erde spross, um meiner Einsamkeit ein menschliches Antlitz zu geben. Vielleicht war es auch nur der Schatten jenes Olivenbaumes, der im Garten meiner Großmutter stand. Es schien, als wäre er vom herbstlich bewölkten Himmel gefallen. Wie konnte ich ihn bisher nie bemerkt haben?
Jeden Tag gehe ich im Volkspark Humboldthain in Berlin spazieren, um die neue Luft zu atmen, der es nicht gelingt, den Geruch der scharfen Vergangenheit, der an mir haftet, auszulöschen. Ich habe die Ecken des Hauses meiner Kindheit zurückgelassen und explodiere fast über den Blüten der Gegenwart, die zu Bilder meiner Vergangenheit werden, die doch so fern jetzt sind. Ich sah sogar meine Mutter vor mir, wie sie die wilden Felder ihres Garten bewässerte und mich umarmte.
Genau wie ich öffnete der Olivenbaum seine Arme und streckte sie einer imaginären Mutter entgegen; die Schatten der Äste bewegten sich durch das saftige Gras auf mich zu. Eine leichte Brise murmelte in meinen Ohren, schließlich brach eine vertraute Stimme die unangenehme Stille. Es schien, als fürchtete sich der Olivenbaum so wie ich, denn er zitterte im Wind. Ich spürte den Tau auf den Blättern, die blass und staubig waren. So ähnlich sah auch ich aus an jenem traurigen Tag, an dem ich zu Hause auf meinem Bett saß, meine Habseligkeiten, meine Bücher, meine Manuskripte um mich verstreut.
Meine Augen fixierten die Unordnung, Stimmen flüsterten in mein Ohr: „Wie kannst du diesen Ort verlassen, deine Familie, Freunde, deinen Balkon. Wer wird deinen Rosenbaum gießen?“ Ich war wie gelähmt.
Während ich in Gedanken versank, kam meine Freundin. „Dein Flug geht in einer Stunde“, sagte sie. Ich tat, als hörte ich sie nicht. Als sie es merkte, griff sie nach einer Tasche und packte ein, was sie finden konnte. Sie zog mich aus dem Zimmer, wir verließen das Haus, ohne uns von meinen Söhnen und meiner Mutter zu verabschieden. Ohne den Rosenbaum gegossen zu haben.
Nun betrog ich ihr Vertrauen
Die Person: Najet Adouani ist 1956 in Tunesien geboren. Die Dichterin, Schriftstellerin und Journalistin schrieb in ihrem Heimatland für verschiedene oppositionelle Zeitungen. Nach der Revolution geriet Adouani ins Visier der Salafisten und floh 2012 ins Exil nach Deutschland.
Das Werk: Sie veröffentlichte sechs Gedichtbände auf Arabisch und eine Sammlung von Kurzgeschichten, welche auch ins Englische übersetzt wurden. Ihre Texte sind provokant und kritisieren die Scheinheiligkeit der religiös geprägten Moral. Für ihr Engagement für Frauenrechte gewann Adouani 2010 den Feminine Poetry Prize. Dieses Jahr erschien ihr erster deutscher Gedichtband, „Meerwüste”. Ihr Text wurde aus dem Arabischen übersetzt von Abdel Mottaleb El Husseini.
Niemand dachte damals, dass ich für immer gehe. Die Jungs dachten, ich ginge nach Korbous, um Urlaub zu machen. Sie hatten mich schon öfters mit einer Reisetasche gesehen, wie ich in den Urlaub fuhr. Immer kam ich nach Tagen oder Wochen zurück. Doch nun betrog ich ihr Vertrauen, um meine eigene Freiheit zu schützen.
Manche Leute denken, es sei leicht, dein Land zu verlassen und woanders ein neues Leben zu beginnen. Doch das ist es nicht.
Als ich an der großen Brücke bei der Behmstraße in Berlin ankam, vermischten sich die Bilder vor meinen Augen mit meinen Tränen. Nicht weit von mir setzte ein kleines Mädchen ihre Papierboote auf einen Tümpel im Mauerpark – oder war es schon der Tegeler See? – damit der Wind sie nach Süden in Richtung der Küste von La Marsa, meiner so sehr geliebten Stadt, treibt.
Obwohl die Äste des Olivenbaums so zierlich sind und die Wurzeln sogar nackt in der Luft hängen, versucht er zu überleben und ein Teil des neuen Grundes zu werden. Dennoch wird er die Parkbesucher, die sich über ihn wundern, nie überzeugen, dass er ein einheimischer Baum ist. Er wird immer anders sein, weil ihn jemand in dieses neue Land gepflanzt hat, in dem er nach seiner Identität sucht.
Für Menschen, die große Schrecken erlebt haben, ist es nicht einfach, ihre Ängste zu überwinden. Ich habe das erlebt, als ich in Weimar, meinem ersten Halt in Deutschland, angekommen war. Überall sah ich gruselige Gestalten. Ich konnte nicht vor einem Fenster sitzen oder spazieren gehen, ohne mich ständig wie in Panik umzudrehen und zu vergewissern, dass niemand mir folgt. Auch jetzt kann ich noch immer nicht in meiner Wohnung bleiben, ohne die Tür abzuschließen. Doch damals war es schlimmer. Meine Angst war zeitweise so groß, dass ich die Tür von innen mit schweren Möbelstücken verbarrikadierte, bevor ich ins Bett ging.
Als ich später nach Berlin zog, beschloss ich, mich meinen Ängsten zu stellen. Umso mehr, nachdem ich Shamsou Eddin – einen irakischen Kommunisten – traf und sah, wie er lebte. Er war vor vielen Jahren – damals war Ahmed Hasan al-Bakr irakischer Präsident – aus dem Gefängnis geflohen. Jetzt blieb er in seiner Angst gefangen, er hielt das Gefängnis in seinem Inneren aufrecht, nie konnte er die langen und einsamen Nächte vergessen, die ins Heulen der Wölfe gehüllt waren.
Dunkle Einsamkeit
Noch immer schließt er seine Wohnung mit sechs Metallschlössern ab und vertraut kaum jemandem. Nur drei Freunde hat er, Kameraden, die mit ihm im Gefängnis saßen und so denken wie er. Wie viele andere konnte er zwar seinen Körper retten, aber seine Gedanken, seine Erinnerungen nicht befreien. Wenn er im warmen Mantel der Stadt Berlin vor Angst zittert und sich in eine dunkle Einsamkeit begibt, hält er sich selbst in einem großen Gefängnis gefangen.
In einer 16-teiligen Serie haben wir Flüchtlinge gebeten, uns das zu erzählen, was ihnen jetzt gerade wichtig ist. Wie erleben sie Deutschland, worauf hoffen sie, wie sieht ihr Alltag aus? In ihren Ländern waren sie Journalisten, Autoren, Künstler. Sie mussten Syrien verlassen, Russland, Aserbaidschan oder Libyen. Jetzt sind sie in Deutschland. Was sie zu sagen haben, lesen Sie im Oktober täglich auf taz.de. Alle Geschichten gebündelt gibt es in der taz.am wochenende vom 2./3./4. Oktober, erhältlich am eKiosk.
Für mich war es einfacher, meine Ängste abzulegen, weil ich mich mit ihnen konfrontierte. Ich konfrontierte mich mit den Erinnerungen an jene große schwarzen Masse, die im August 2012 vor meiner Haustür in Tunesien aufschlug. So bedrohten mich die Terroristen und versuchten, mich zu Tode zu erschreckten. Trotz meines Durchhaltevermögens werde ich diesen Abend nie vergessen.
Aber ich gebe nicht auf. Ich bin keine schwache Frau, wie die Terroristen dachten. Und weil meine neue Heimat keine Grenzen kennt, bin ich in der Lage – im übertragenen Sinne – mit Worten, mit Zeilen, viele weitere Gärten zu bepflanzen.
Ich wünsche mir oft, dass die Menschen ihre Religion zu ihrem Besten genutzt hätten und nicht als Vorwand, um ganze Landstriche zu zerstören und unschuldige Menschen abzuschlachten. Aber was ich gesehen habe, lässt meine Hoffnung schwinden. Jemand der seine Seele nicht von ritueller Ignoranz lösen kann, kann sich niemals mit seiner Umgebung arrangieren, auch wenn er seine Heimat verlässt, um Sicherheit und Frieden zu suchen. So jemand begreift das nicht, da er seine fanatischen Überzeugungen nicht ablegen kann.
Leider gibt es viele in meiner Umgebung – und nicht nur Flüchtlinge – die dies bestätigen. Ich kam in Berührung mit Menschen aus verschiedenen Ländern, die Schwierigkeiten hatten, sich in ihrer neuen Umgebung einzugewöhnen.
„Du bist eine freundliche Frau“
Komische Sachen habe ich dabei auch erlebt. Einmal hatte ich eine Lesung in einem arabischen Club in Berlin – im Publikum nur Männer. Sie waren gekommen, um die tunesische Frau anzuschauen, nicht jedoch, um ihr zuzuhören. Außer mir war nur noch eine Frau da, die in der Küche arbeitete und Tee servierte. Nachdem ich meine Lesung beendet hatte, schien mir, dass ich in einer arabischen Stadt war: Ihre Fragen, ihre Blicke und ihre Mentalität versetzten mich zurück in die Zeit in Tunesien, die man den Arabischen Frühling nannte.
Damals kam eine sehr nette, verschleierte Frau vorsichtig auf mich zu und flüsterte mir ins Ohr: „Du bist eine freundliche, gute Frau, bitte trage das Kopftuch. Es steht dir gut und verleiht dir Respekt.“ Ich lächelte, ohne ein Wort zu sagen. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass sie wie die anderen auf einer isolierten Insel lebt.
Und das wiederum erinnerte mich daran, wie ich mit dem Bus in eine sehr ländliche Gegend im Süden Tunesiens fuhr und viel Zuspruch und positive Reaktionen auf meine Rede für die Unterstützung von Frauenrechten erfuhr. Doch nachdem die Frauen begeistert geklatscht hatten, rief ein Mann mit langem Bart „Dreckige Kommunistin, Gottlose!“. Sofort wendeten sich die Frauen von mir ab und bespuckten mich.
Stolz, ein Mädchen zu sein
Genauso reagierte ein Mann im Flüchtlingslager in Augsburg: Er fühlte sich wohl in seiner Männlichkeit durch mich bedroht, weil ich über meine journalistischen Erfahrungen erzählte und vom Leiden der Frauen in einer so männlich dominierten Gesellschaft. Der Mann erhob seine Stimme in dem stillen Raum und forderte mich auf: „Geh in deine Küche und erfüll deine Pflichten!“
Nicht was er gesagt hatte, tat mir da weh, sondern die Tränen des kleinen Mädchens, das neben mir stand. Bevor er mich beleidigte, hörte sie mir zu und lächelte; ich merkte, wie stolz sie war, ein Mädchen zu sein. Nachdem er mich beleidigt hatte, sah ich nur noch ihre tränenvollen Augen, in denen tiefe Traurigkeit und Scham lag.
Für ein paar Minuten konnte ich nicht sprechen, mich nicht bewegen. Ich wünschte, ich hätte ihn geschlagen, denn er hat mit seinen schlechten Worten zerstört, was ich aufgebaut habe. Einer wie er beflügelt nicht, sondern macht alles bitter. Aber das kleine Mädchen, das mir zuhörte und seine Augen nicht von mir nahm, weinte und mir dann ihre Hand mit einer Blume entgegenstreckte, nährt mein Vertrauen in die Zukunft doch.
Aus dem Englischen übersetzt von Julia Schnatz
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