„Angekommen – Flüchtlinge erzählen“: Eigentlich Ärztin, jetzt Kellnerin
Viele Intellektuelle verlassen Afghanistan. Das hat Folgen dort, aber auch im Asylland. Sie verlieren ihre Identität und ihren Status.
Mehr als sechs Millionen Menschen flüchteten in den letzten drei Jahrzehnten aus Afghanistan. Zerstörerische Kriege und die Etablierung von autokratischen Regierungen nach den Kämpfen mit der Sowjetunion haben dazu geführt. Obwohl Sicherheitskräfte in Afghanistan eingesetzt wurden und die UNO Anstrengungen unternahm, afghanische Emigranten zurückzuholen, ist es immer noch das Land, aus dem die meisten Menschen flüchteten. Der Exodus aus Syrien verdrängt Afghanistan allerdings allmählich von der ersten Stelle der Fluchtländer.
Abgesehen von Statistiken, etwa des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR, die von mehr als 10.000 registrierten Flüchtlingen allein in der Türkei ausgehen, flüchten jährlich Tausende Afghanen illegal über die iranische Grenze in die Türkei. Sie wird als Transitland genutzt, um anschließend etwa nach Griechenland zu gelangen. Danach werden sie von Schleppern in die europäischen Länder geschmuggelt.
Die schlechte wirtschaftliche Lage, Bedrohungen durch Extremisten, das Desinteresse an Bildung und Wissen, die Marginalisierung von Experten und stärker werdende Vorurteile der Ethnien untereinander sind Gründe, die dazu führten, dass viele gebildete Menschen nach einem besseren und ruhigeren Leben außerhalb von Afghanistan suchen.
Korrespondenten, Übersetzer und Leute, die mit dem internationalen Militär zusammengearbeitet haben, sind vielleicht die bekannteste Personengruppe, die das Land verlassen hat oder es zumindest versuchte. In den letzten Jahren sind Medienleute und die Menschen, die als Aktivisten einer bürgerlichen Gesellschaft gelten, mit dem höchsten Maß an Bedrohung und Gewalt im ganzen Land konfrontiert. Viele Intellektuelle verlassen deswegen Afghanistan. Die schlechte Wirtschaftslage trägt ebenfalls dazu bei. Nach Einschätzung der Weltbank leben 36 Prozent aller Afghanen in Armut.
Die Gebildeten gehen
Wenn die gebildete Schicht eines Landes flüchtet, hat dies weitreichende negative Folgen. So befördert es den Zusammenbruch von Regierungen. In Afghanistan ist dieser Prozess voll im Gange. Viele Menschen, die das Talent für politisches Handeln hätten, vertrauen der Regierung nicht. Die Verwaltung gilt als korrupt.
Die Person: Sharmilla Hashimi, 28, ist afghanische Journalistin. Sie wurde von den Taliban bedroht, weil sie über Frauenrechte geschrieben hatte. Vor zwei Jahren flüchtete sie mit ihrem achtjährigen Sohn nach Deutschland. Sie lebt in Berlin.
Das Werk: Hashimi arbeitete in Afghanistan als Radio- und TV-Journalistin. Sie ist Mitglied von Reporter ohne Grenzen.
Die Flucht der Intellektuellen vernichtet die entwicklungspolitischen Investitionen. Milliarden Dollar sind in den letzten 14 Jahren aus der Europäischen Union geflossen, um den Aufbau einer Zivilgesellschaft im Land zu befördern. Ohne die gebildete Klasse kann dieser Prozess nur scheitern. Die meisten Projekte der Hilfsländer sind tatsächlich gescheitert.
All dies wiederum verstärkt den Zusammenbruch des Bildungssytems in Afghanistan, das der jungen Generation eine Perspektive eröffnen sollte. Junge Leute können nicht akzeptieren, dass weder Ausbildung noch ein Job ihnen eine Zukunft garantieren. Deshalb wollen auch sie das Land verlassen. Sie hoffen auf eine bessere Zukunft in Europa und riskieren auf der Flucht ihr Leben.
Intellektuelle haben es auch im Fluchtland nicht leicht. Ihre Ausbildung wird oft nicht anerkannt. Sofern sie arbeiten dürfen, bekommen sie Jobs weit unter ihrer Qualifikation. In Afghanistan waren sie Professoren, Ärztinnen, Journalisten oder AktivisttInnen der Zivilgesellschaft; im Fluchtland kellnern sie oder fahren Taxi. So verlieren sie in der neuen Heimat ihre Identität und ihren Status. Das Dilemma: Im Herkunftsland fehlen sie bei der Weiterentwicklung der Gesellschaft; im Asylland wiederum fehlen ihnen die Chancen, sich weiter zu entwickeln. Besonders schwer ist es für Leute, deren Asylantrag abgelehnt wurde und die nun illegal in Europa leben.
Flüchtlinge erzählen
Wir sprachen mit vielen Flüchtlingen, nur wenige waren bereit, ihre Namen öffentlich zu machen. Mohammad Shafi Wassal wagte es. Hier sein Bericht:
„In einem Land wie Afghanistan zu leben bedeutet für viele einen Schmerz, den man aushalten muss. Die oppositionellen Gruppen bedrohen die, die für Afghanistans Partnerländer wie Amerika, Italien und andere arbeiten. Nachdem ich meinen Bachelor in Englisch an der Herat-Universität beendet hatte, suchte ich einen Job, der mich und meine Familie ernährt. Ich bekam eine Stelle als Übersetzer im amerikanischen Militärcamp in der Provinz Farah. Leider wurde mir von Unbekannten mehrfach mit dem Tod gedroht. Ich musste Afghanistan verlassen, um einen Ort zu finden, wo ich in Frieden leben kann. Nach einem langen und gefährlichen Weg erreichte ich Deutschland. Jetzt lebe ich seit einem Monat in einem Flüchtlingscamp in Neumünster. Es gibt kaum Sanitäranlagen und nicht genug Platz für all die obdachlosen Menschen. Die Behörden kümmern sich nicht so wie erwartet. Ich schlafe ohne Decke auf einem großen, kalten Flur. Ich habe nach einem Zimmer gefragt und hoffe auf eine positive Rückmeldung, schließlich bin ich anerkannter Flüchtling und habe Hoffnung auf ein besseres Leben.“
In einer 16-teiligen Serie haben wir Flüchtlinge gebeten, uns das zu erzählen, was ihnen jetzt gerade wichtig ist. Wie erleben sie Deutschland, worauf hoffen sie, wie sieht ihr Alltag aus? In ihren Ländern waren sie Journalisten, Autoren, Künstler. Sie mussten Syrien verlassen, Russland, Aserbaidschan oder Libyen. Jetzt sind sie in Deutschland. Was sie zu sagen haben, lesen Sie im Oktober täglich auf taz.de. Alle Geschichten gebündelt gibt es in der taz.am wochenende vom 2./3./4. Oktober, erhältlich am eKiosk.
Auch Hawa Hesas erzählt. Sie hat viele Jahre versucht, für die Rechte afghanischer Frauen zu kämpfen. Hawa Hesas hat eine gute Ausbildung und arbeitete in wichtigen Abteilungen der Verwaltung. Aber nach all den Problemen, die aufkamen, ist sie nach Europa gegangen. Vielleicht entkam sie so dem Tod, aber was ist nun ihr wirkliches Ziel?
Sie sagt: „Immigration ist für Intellektuelle sehr schwer. Zunächst müssen sie lange auf eine Antwort auf ihren Asylantrag warten. Dann gibt es nicht genug Angebote, die Sprache zu lernen. Außerdem hatte ich viele Probleme, als ich nach Deutschland kam, weil amtliche Briefe ausschließlich auf Deutsch verfasst waren und ich nichts verstand. Ich studierte Management bis zum Bachelor. Ich habe außerdem sechs Jahre Arbeitserfahrung. Aber hier in Deutschland muss ich nun ganz von vorn anfangen. Ich muss meinen Abschluss in deutscher Sprache machen, was wirklich nicht leicht ist. Ich rate Menschen, die gebildet sind und in Afghanistan eine gute gesellschaftliche Position haben, dass sie versuchen sollen, nicht zu flüchten.“
Was notwendig ist
Fehlendes Verständnis der Kultur, mangelnde Kommunikation mit den deutschen Bürgern, fehlende Möglichkeiten, Deutsch zu lernen, Isolation und andere Probleme schließen die Flüchtlinge aus. Langfristig wird sich dies eher negativ auf die Gesellschaft auswirken.
Flucht und Immigration haben nicht erst gestern begonnen – das heißt auch, dass sie nicht morgen zu Ende sein werden. Wichtig ist daher die Regulierung der Immigration und ein faires Verhalten gegenüber Flüchtlingen. Weitreichende Aufklärung der Öffentlichkeit ist essenziell sowie mehr Personal, um die Fragen der Flüchtlinge zu klären.
Aus dem Englischen übersetzt von Julia Schnatz
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