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Andreas Speit Der rechte RandWarum die Erinnerung an das Grauen trügen kann

Foto: Jungsfoto: dpa

Worte der Vergebung, eine feste Umarmung und leise Tränen. Im laufenden Verfahren gegen Bruno D. hat einer der Überlebenden des KZ Stutthof, Moshe Peter Loth, dem ehemaligen SS-Wachmann im November mit großer Geste verziehen. Im Saal 300 des Hamburger Landgerichts wendete er sich am siebten Verhandlungstag den zugelassenen Prozessbeobachter*innen zu und sagte: „Alle aufpassen, ich werde ihm jetzt vergeben.“ Der Nebenkläger fragte die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Möring, ob er zum Angeklagten gehen dürfe. Er durfte, beugte sich herunter zu D., der im Rollstuhl sitzt, und umarmte ihn. Loths Botschaft: „Heilung durch Vergebung.“

Die Botschaft kam an – weltweit. Unter anderem berichteten die britische Daily Mail und die Jerusalem Post. Die taz titelte: „Geste der Versöhnung“, auch das „heute journal“ des ZDF berichtete von dem Auftritt.

Kurz darauf äußerten Historiker*innen, die das Verfahren begleiten, Zweifel an der Biographie Loths. Dieser sei ein religiöser Fundamentalist, hieß es an späteren Verhandlungstagen. In der Forschung zum Nationalsozialismus und in den wenigen Gerichtsverfahren zu den Verbrechen von SS und Wehrmacht wird schon lange versucht, den überlebenden Opfern entgegenzukommen, wenn sie das Grauen erinnern, darstellen und einordnen. Bei ihren Aufklärungsbemühungen können die Grenzen zwischen dem selbst Erlebten, dem, was man erzählt bekommen hat, und dem, was man sich angelesenen hat, verwischen – auch weil die Verfahren erst Jahrzehnte nach den Verbrechen langsam anlaufen.

In diesem Fall aber sind nicht bloß Grenzen verwischt: Die Geschichte, die Loth erzählt hat, hat er sich ausgedacht. Loth wurde nicht im KZ Stutthof geboren und kommt auch nicht aus einer jüdischen Familie, wie der Spiegel überprüft hat. Loth, dessen ursprünglicher Vorname Peter Oswald war, stammt aus einer evangelischen Familie. Sein Großvater, Otto Loth, war bei der Waffen-SS. Dessen älteste Tochter Helene – Moshe Peter Loths Mutter –, wurde 1943 im KZ Stutthof inhaftiert. Im Einlieferungsbuch, so der Spiegel, sei „Erziehungshaft“ eingetragen und als Nationalität „R. D.“ angegeben. „R. D.“ steht für: Reichsdeutsche. Eine solche Erziehungshaft ordnete die Gestapo als Disziplinierungsmaßnahme an – bei „arbeitsunlustigen Elementen“.

Zur Haftzeit, die in der Regel zwei Monate dauerte, war Helene Loth im dritten Monat schwanger. Nach einem Monat wurde sie entlassen, in Tiegenhof entband sie ihren Sohn. 1945 kam er in die Obhut einer Polin, erst 1959 konnte er zu seiner mittlerweile in den USA lebenden Mutter ziehen. Sie verloren sich jedoch wieder. 1999 erfuhr Loth vom Tod seiner Mutter. Zu dieser Zeit lebte er als evangelikaler Christ, glaubte jedoch jüdische Wurzeln zu haben, schreibt der Spiegel. 2015 bekannte sich der 76-Jährige zum Judentum.

Andreas Speitarbeitet als freier Journalist und Autor über die rechte Szene nicht nur in Norddeutschland.

Seine Anwälte erklärten dem Spiegel, Loth habe „sein gesamtes Leben lang seine wahre Identität“ gesucht.

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