Anatomie und Geschichte des Zorns: Die Wutprobe
Bankern und Managern schlägt der Volkszorn entgegen. Die Wut der Schlechtweggekommenen ist ein produktiver, aber höchst gefährlicher Affekt.
So ganz nach anarchistischen Umstürzlern klangen die Parolen nicht, die vergangene Woche durch die Londoner City schallten: "Wir brauchen einen sauberen Kapitalismus" lautete eine. Am Ende legte die Menge eine Filiale der Royal Bank of Scottland in Trümmer. Brave Bürger bringen derweil in ihren Vorgärten handgeschriebene Poster an, wie etwa den: "Hängt die Banker, bis sie tot sind." Die Führung des amerikanischen Versicherungsriesen AIG empfahl ihren Mitarbeiter, keine Taschen, T-Shirts oder Anstecknadeln mit dem Firmenlogo zu tragen. US-Vizepräsident Joe Biden bekundete, er "würde diese Jungs sofort in den Bau stecken". Aber auch Chefs, deren Firmen in Bedrängnis geraten, sind nicht mehr sicher. In Frankreich wurde das Chefeinsperren schon zu einem regelrechten Volkssport. Die Manager klingender Firmen wie Caterpillar, Sony und 3M wurden kurzerhand in Geiselhaft genommen. Vergleichsweise glimpflich kam noch die Führung des Reifenherstellers Continental davon: Sie wurde nach irakischer Mode mit Schuhen beworfen.
Die Wut ist wieder zurück, dieser eruptive, oft planlose Affekt, den man gerne "Volkszorn" nennt. Was ist das eigentlich? Ein Gefühl, ein frei flottierendes Ressentiment? In der Geschichte war dieser Zorn immer ein politisch sehr wirksamer Affekt, aber er ist natürlich auch ein sehr fragwürdiger. Die Ausbrüche des Ressentiments der Schlechtweggekommenen fragen nicht nach politischer Nützlichkeit, die Wut ist nicht weitsichtig. Einerseits. Andererseits hätte es in der Geschichte kaum Fortschritte gegeben, wenn den Übervorteilten nicht gelegentlich der Kragen geplatzt wäre - und die oben daraufhin die Angst vor der "Laternisierung" gepackt hätte, wie man das in Revolutionszeiten nannte, also die Furcht, dass das Luxusleben sehr schnell an einer Straßenlaterne sein Ende finden könnte.
Der "gerechte Zorn" ist so alt, wie das politische Denken selbst. Mit "heiligem Zorn" wandten sich die biblischen Propheten gegen die Mächtigen ihrer Tage. "Die Leichen der Menschen sollen liegen wie Dung auf dem Felde und wie Garben hinter dem Schnitter, die niemand sammelt", empörte sich Jeremia. Der Gott selbst, der Gericht halten würde, wurde als "zorniger Gott" imaginiert. Und auch Jesus ist nicht nur ein putziges Krippenkind: Der steht mit heiligem Zorn im Tempel, stürzt die Tische um und wirft die Händler und Geldwechsler hinaus. Wenn man so will, eine frühgeschichtliche Randale gegen das Ponzi-Schema des Finanzkapitalismus. Jedenfalls: Wie es der Zorn in die Liste der sieben Todsünden bringen konnte, ist so gesehen höchst erklärungswürdig.
Der Philosoph Peter Sloterdijk hat der Rolle des Zorns in der Geschichte unlängst ein inspiriertes Buch gewidmet: "Zorn und Zeit". Der Zorn begleitet uns durch die Zeiten. Mal schlägt er in Revolten um, dann auch wieder in Hass. Er kann demokratische Aufstände gegen Potentaten befeuern, aber auch ethnische Genozide und junge Muslime, die sich auf belebten Plätzen in die Luft sprengen. "Als Furor alten Stils passt er überhaupt nicht mehr in die urbane Welt", proklamiert Sloterdijk, aber es ließe sich nachweisen, "wie sich der Zorn von seiner diffusen Anfangsgestalt zu höheren Organisationsgraden entwickeln kann". Die Zornpotenziale "durchlaufen die Metamorphose von der blinden Verausgabung im Hier und Jetzt bis zum hellsichtig geplanten weltgeschichtlichen Projekt einer Revolution zugunsten der Erniedrigten und Beleidigten". Sozialistische und kommunistische Parteien der vergangenen hundertfünfzig Jahre, aber auch Gewerkschaften, waren für Sloterdijk etwas, das er "Zornbanken" nennt: Organisationen, die den Zorn der Einzelnen, der ansonsten planlos aufflammen müsste, horten und in politische Projekte investieren.
Wohl auch deshalb ist der "Volkszorn" nicht nur bei jenen schlecht angesehen, die ihn zu fürchten hätten, er wurde auch bei den politischen Parteien der Linken längst nicht immer geschätzt. Er ist schließlich spontan und politisch "unbewusst", stets auch von Rattenfängern instrumentalisierbar. Und nicht immer leicht von dem unterscheidbar, was man die "niedrigsten Instinkte" nennt.
Verzärtelte Denker haben das Eruptive, Exzessive des Zorns immer mit einer gewissen Faszination betrachtet, schließlich ist die Wut ja eine "echte" Leidenschaft und hat, ähnlich der kopflosen Liebe, den Glanz des Authentischen.
Aber das "Gesunde" am Zorn ist von seinen Pathologien meist nicht leicht zu trennen. Der Zorn ist persönlich, selbst wenn er sich gegen "das System" richtet, wendet er sich gegen Einzelne, die das System repräsentieren. Schon Karl Marx war das nicht immer recht - diese Einzelne seien doch "Charaktermasken", meinte er. Dass den Zorn der Plebejer oft auch die Maschinen zu spüren bekamen, die ihre Arbeit überflüssig machten, fanden die fortschrittsfreundlichen Theoretiker der Arbeiterbewegung auch nicht gut: Maschinenstürmerei wurde als Akt kopfloser Wut verdammt.
Zu den fragwürdigsten Eigenheiten des Zorns zählt: Er ist, wie man heute sagen würde, nicht "gender-neutral". Der Zorn ist ein Männergefühl. Von Achilles bis Zidane ist das öffentliche Zornigsein etwas, was man gern "echten Männern" zubilligt - Frauen weniger. Wenn Männer ausflippen, sind sie "zornige junge Männer", manchmal auch "zornige alte Männer". Wenn Frauen ausflippen, dann sind sie hysterisch. In der modernen Popkultur schließlich ist der Zorn selbst eingehegt worden, als gepflegtes schickes Gefühl, das der Postpunk am Catwalk ausstellt. Zorn als Styling - Rage against the Machine.
Mit der Französischen Revolution wurde der Zorn polittheoretisch geadelt. Der Zorn wurde als demokratisches Gefühl interpretiert: Der Wut des Volkes gebühre Respekt, so die These. Als die Jakobiner ihren Widersachern und den Königstreuen ihr "Sie mögen zittern" entgegenschleuderten, endete das aber in einem Blutbad. Freilich, es gab auch die freundlicheren Fälle, in denen der Zorn ins Spielerische verdampfte. Wie heute die Protestler den AIG-Managern in ihren Vorstadtvillen machten schon in der europäischen Revolution von 1848 die heißspornigen Umstürzler den Obrigkeiten ihre Aufwartung: Sie quälten sie mit "Katzenmusik", mit ohrenbetäubenden Lärm vor ihren Schlafzimmerfenstern. "Verstummten die Hölleninstrumente, so folgte ein zermürbendes Miauen, Kreischen, Quaken und Schnalzen, aber auch Hundegeheul durfte nicht fehlen", berichtete ein junger Revolutionär nach einem solchen Lärmspektakel vor dem Palais des Grafen Ficquelmont.
Weniger freundlich klang das rund hundert Jahre später, als Frantz Fanon, Vordenker der algerischen Revolution, seinen Lobgesang auf die revolutionäre Gegengewalt losließ. "Der Kolonisierte identifiziert seinen Feind und wirft die ganze, bis zum äußersten gereizte Kraft seines Hasses und seiner Wut in die Waagschale. In dieser Situation geht der Schuss von alleine los, denn die Nerven sind überreizt."
Häufiger vielleicht noch ist die diffuse Zornigkeit. Selbst "Sklavenaufstände" waren nicht immer offen politische Akte, wie der amerikanische Autor Marc Ames in seinem Buch "Going Postal. Rage, Murder and Rebellion in America" feststellt. In den allermeisten Fällen waren sie, so Ames, "willkürliche Gewalt: die Plantage niederbrennen, den Besitzer vergiften, eins seiner Kinder umbringen".
Auch der Furor jugendlicher Amokläufer, wie zuletzt der in Winnenden, ist für Ames deshalb "fehlgeleitet", aber doch "politisch" - Folge von Mobbing, empfundener Chancenlosigkeit, Respektlosigkeit, fortwährenden Kränkungen, die blinde Wut derer, die zu Losern und Versagern gestempelt werden.
Zorn ist unterkomplex. Deshalb ist die sprachlose Zornigkeit derer, die zum "kleinen Mann" kleingemacht sind, auch der Humus aller Populismen. Für die Boulevardmedien ist das Zornschüren nichts weiter als eine Geschäftsidee. Zorn ohne Idee sucht sich darum die falschen Adressaten.
Insofern ist der Furor, der heute den Bankern entgegenschlägt, noch regelrecht zielgenau. "Die Leute mögen wenig von Collateral Debt Obligations verstehen, sie wissen aber immerhin, wer die Welt in die Rezession gestürzt hat und dabei auch noch obszön reich geworden ist", formuliert der amerikanische Historiker Michael Kazin in einem Essay mit dem schönen Titel: "Eine kleine Geschichte des amerikanischen Zorns".
Zorn ist weiter verbreitet, als man in normalen Zeiten glauben mag. Auch der "gerechte Zorn" ist nicht immer sympathisch. Bleiben die Zornpotenziale unrepräsentiert, machen sie die Luft nicht besser. Brechen sie sich Bahn, nehme man sich in Acht. "Auch der Zorn über das Un-recht / macht die Stimme heiser", schrieb Bertolt Brecht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative