Analyse: Reformgrenzen
■ Schätzungen der Steuerausfälle bis 2001 machen auch der SPD angst
Bundesfinanzminister Theodor Waigel hat sich verrechnet. Und mit ihm Wirtschaftsminister Günter Rexrodt, die Finanzminister der Länder, der Sachverständigenrat, die führenden Wirtschaftsinstitute, das Statistische Bundesamt, die kommunalen Spitzenverbände und die Bundesbank. Sie alle sitzen im Arbeitskreis Steuerschätzung, der jährlich im Mai eine Prognose zu den für die kommenden drei Jahren erwarteten Steuereinnahmen abgibt, die er dann im November für das laufende und das nächste Jahr präzisiert. Und jedesmal, wenn sie sich zusammenfinden, korrigieren sie ihre Erwartungen vom letzten Mal nach unten. 99 Milliarden Mark, heißt es diesmal, fehlen den Staatskassen bis zum Jahr 2001. „Immer noch geschönt“, heißt es erwartungsgemäß bei der Opposition, die bei ihrer Gegenrechnung auf 154 Milliarden Mark kommt. Nichts Neues also an der Steuerfront?
Vielleicht doch. Denn vier Monate vor der Bundestagswahl spürt die SPD offenbar die Last der potentiellen Regierungsverantwortung. Statt Lösungen zu nennen, beschränkt sie sich auf Vorwürfe gegen die Bundesregierung – und stellt ihr eigenes Wahlprogramm unter „Finanzierungsvorbehalt“. Das ist mehr als ein Seitenhieb auf Waigels „Nach uns die Sinnflut“, es ist eine vorsorgliche Rechtfertigung dafür, es womöglich nicht besser machen zu können.
Dabei sind die Ursachen für die Steuerausfälle hausgemacht und also auch zu bekämpfen. Neben der weggefallenen Vermögensteuer, die nicht durch Mehrerträge bei Erbschafts- und Grunderwerbssteuer kompensiert wurde, sind es vor allem die ganz legalen Steuertricks, die die Mindereinnahmen ausmachen. Jeder Konzern weiß, wie er Verlustvorträge nutzen oder sein Vermögen ins Ausland transferieren kann. Und in Zeiten, in denen sich der Wert des Unternehmens am Shareholder Value orientiert, schüttet er seine Gewinne lieber als Dividende aus und zahlt weniger Körperschaftssteuer. Die Aktionäre wiederum umgehen die dafür zu berappende Einkommenssteuer, indem sie Sonderabschreibungen nutzen. Während die Konzerne und ihre Nutznießer so immer weniger Steuern zahlen, sinken die Beschäftigtenzahlen – und die Einkommen. Was nützen hohe Steuersätze, wenn die Bemessungsgrundlage ausgehöhlt wird?
Hier Steuergerechtigkeit herzustellen, war bislang einer der Schwerpunkte einer „anderen Politik“. Nun wird er relativiert. Denn was passiert, wenn eine SPD-Regierung sich auf sogenannte Sachzwänge einläßt, hat NRW-Finanzminister Heinz Schleußer gerade gezeigt. Zum Loch in seinem Landeshaushalt fielen ihm statt einer Kreditaufnahme für Investitionen, wie sie das DIW etwa für die Ostländer vorschlägt, nur „drastische Kürzungen“ ein – bei Kinderbetreuungsangeboten und Leistungen für Flüchtlinge. Beate Willms
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