Analyse: Last der Geschichte
■ Im Fall Havemann holt den BGH seine eigene Vergangenheit ein
In keiner vom Bundesgerichtshof verhandelten Entscheidung wurde das Gericht so direkt mit seiner alten Rechtsprechung konfrontiert wie im Fall Havemann – bei der DDR-Staatskriminalität hat die Vergangenheit das Gericht geradezu eingeholt. Unter Vorsitz Freislers hatte der Volksgerichtshof 1943 Robert Havemann, Georg Groscurth, Herbert Richter und Paul Rentsch wegen der Vorbereitung zum Hochverrat zum Tode verurteilt. Nur Havemann überlebte. Der am Verfahren beteiligte Kammergerichtsrat Rehse – der rund 230 Todesurteilen der Nazijustiz unterzeichnete – wurde 1967 wegen Beihilfe zum Mord zu fünf Jahren Haft verurteilt. Der 5. Strafsenat des BGH war es, der ein Jahr später das Urteil mit der kaum verhüllten Empfehlung aufhob, Rehse freizusprechen. Dem entsprach 1968 das Landgericht Berlin – eine Entscheidung, die faktisch die Ermittlungsverfahren gegen NS-Mörder in der Richterrobe führte.
Derselbe 5. Strafsenat des BGH hat nun am letzten Donnerstag entschieden: Jene DDR-Justizfunktionäre, die 1976/77 Havemann zu Hausarrest und 1979 zu einer Geldstrafe von 10.000 Mark verurteilten, hat sich der Rechtsbeugung schuldig gemacht. Das Landgericht Frankfurt (Oder) hatte die Richter 1997 von diesem Vorwurf freigesprochen, doch immerhin im Urteil erklärt: Die Beweisaufnahme hätte gezeigt, daß beide Verfahren gegen Havemann bis zum Urteilsspruch vom MfS minutiös vorbereitet und geplant worden seien. Allerdings sei es nicht gelungen, hieß es damals, den Nachweis zu erbringen, daß die angeklagten Richter und Staatsanwälte wissentlich Weisungen justizfremder Stellen (Ministerium für Staatssicherheit, SED, Erich Honecker) vollzogen oder sich mit diesen abgestimmt hätten. Auch sei nicht erwiesen, daß die Verfahren allein der Verfolgung eines politischen Gegners gedient hätten.
Für jeden Kenner der DDR-Justizpraktiken und der vor dem Landgericht Frankfurt eingebrachten Beweismittel hat der BGH überzeugende Gründe gehabt, den Freispruch aufzuheben. Doch um Beweisfragen ging es letztlich bei der BGH-Entscheidung nicht – vielmehr um geschichtliche Erblasten. Mit der Person Havemanns war der BGH unmittelbar zurückverwiesen auf seine unsägliche Rechtsprechung gegenüber der Mörderbande des Volksgerichtshofs. Denn der höllische Unterschied zwischen dem VGH-Urteil des Jahres 1943 und den Urteilen der Jahre 1976/79 ist unabweisbar. Er wird im Strafmaß deutlich zu markieren sein. Der 5. Strafsenat nun in der Verantwortung, in schonungsloser Selbstkritik überzeugend zu begründen, warum er 1968 Todesurteile des Volksgerichtshof-Richters Rehse nicht für rechtsbeugerisch hielt, nunmehr aber bereits einen Hausarrest, ausgesprochen durch DDR-Justizfunktionäre. Falco Werkentin
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