Analyse von Putins Narrativ: Misstraut den Erzählungen!
Putin und Kapitän Ahab: Das Vertauschen von Geschichte und Geschichten ist ein Merkmal autokratischer Propaganda. Eine literarische Analyse.
Zur unheilvollen Verbindung von Geschichte und Geschichten liefert der Apparat Putin ein einschlägiges Exempel. Nicht umsonst wird im Zeichen des Überfalls auf die Ukraine immer wieder die Rede von einem „historischen Narrativ“ des russischen Autokraten bemüht, um die Gründe und Abgründe nachzuzeichnen, deren Effekte dem Regime in Moskau vor allem als eines dienen: als Quelle der Legitimation für ein grausames Verbrechen.
Die vielgestaltige Rede vom Narrativ ist dabei formelhaft wie symptomatisch zugleich. Denn heute haben nicht nur Kriegsverbrecher eines, sondern auch Menschen, Unternehmen, Fußballspiele oder sogar – wie uns ein Nobelpreisträger der Ökonomie (Robert R. Shiller) mit seiner Idee der narrative economics erläuterte – Märkte und ihre Blasen. Dabei sind Narrative Erzählungen, und glauben wir Aristoteles, so haben sie einen Anfang, eine Mitte und ein Ende.
Das heißt: Sie ordnen die Dinge und Ereignisse in der Zeit und geben ihnen darin einen Sinn. Und indem sie das tun, bringen sie das Erzählte in eine Ordnung und erzeugen die Vorstellung von einer Wirklichkeit, die in dieser Sekunde den Menschen der Ukraine buchstäblich mörderisch entgegenschlägt.
Der einzig mögliche Weg
lehrt deutsche und allgemeine Literatur an der Universität von Amsterdam. Zuletzt erschienen ist sein Buch „Gegen die Erzählung: Melville, Proust und die Algorithmen der Gegenwart“.
Dass diese Wirklichkeit – anders als Hegel es einst erträumte – ganz und gar nicht vernünftig ist, zeigt sie selbst an. Nichts an Putins Krieg ist vernünftig, und doch besteht seine Wirklichkeit und ist eine, die das Leben von Millionen von Ukrainern verheert und verwüstet. Zugleich ist diese Wirklichkeit auch die Fortsetzung einer Erzählung, nämlich der von einem einzig möglichen, richtigen und vor allem sinnvollen Weg.
Hätten wir diese Erzählung ernst genommen als das, was sie ist, so hätten wir schon früher verstanden, dass sie – als ideologische Praxis – die Wirklichkeit mit einschließt. Denn sie hat die Botschaft, dass in ihr die Dinge, Ereignisse und Menschen nicht nur sinnvoll geordnet werden, sondern dass die entstehende Ordnung für sich in Anspruch nimmt, die einzig wirkliche zu sein. Geschichte, so erzählen die Geschichten, lässt sich nicht ändern, ist wie Natur.
Diese Vertauschung von Geschichte und Geschichten als die von Wirklichkeit und Fiktion ist eine, die jeden verbrecherischen Apparat antreibt. Aber sie ist auch, in ihrer ideologischen Variante, eine gründlich moderne Erscheinung. Denn schon längst vor Putin gibt sich die Moderne ein Programm, dass vielleicht nirgends so deutlich entzifferbar vor uns liegt wie in der großen Allegorie der Erzählungen und ihrer Schiffbrüche, in Herman Melvilles „Moby Dick“.
Symbolische Vorwegnahme
Der Roman ist die symbolische Vorwegnahme dessen, was wir heute in der Ukraine erleben: Er liefert die Geschichte von Wahnsinn, von Gewalt und am Ende eben auch von einem ungeheuren Schiffbruch. An Deck erscheint ein von seiner Erzählung selbst getriebener Kapitän Ahab, der seine Mannschaft, zusammengepfercht wie die russischen Soldaten, antreibt, um einem Gespenst, einer Fantasie und vor allem der Erzählung von einem ungeheuer großen und ungeheuer weißen Wal, Moby Dick, nachzujagen.
Der Wal ist dabei so weiß, dass er keine Eigenschaften hat. Aber er zirkuliert selbst als die Erzählung von einem großen Kampf, in der der Mannschaft eine Belohnung versprochen wird, die ihr am Ende doch vorenthalten wird. Denn das Projekt verschluckt die Menschen ganz so wie Kapitän Ahab seine Mannschaft auf der „Pequod“.
Er verspricht ihr zwar einen kleinen oder – die Kleptokraten des russischen Apparats werden ihn fordern – großen (wie es bei Melville heißt) „Schätzteil“. Vor den Verschluckten nämlich baumelt diffus die Vision von einem Anteil an der Beute, die so ungeheuer ist, dass sie ihr selbst zur Beute werden.
Dabei liefert die Erzählung immer ein Versprechen, dessen Einlösung sich nie ereignet, denn die Erzählung will immer weiter, nicht aufhören, nicht innehalten. Das hat schon Ende der 1930er Jahre Walter Benjamin im Angesicht der mörderischen Logik jener faschistischen Erzählung auf den Punkt gebracht. Er sah, wie sie im Kampf um die Wirklichkeit an Boden gewann, und bemerkte präzise: „Dass es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe.“
Menschen werden hineingezerrt
Eine Erzählung, das sehen wir bei Putin wie bei Kapitän Ahab, ist also kein harmloses Ding. In sie werden die Menschen hineingezerrt – zum einen die Mannschaft, aber zum anderen auch wir. „Nennt mich Ismael“, beginnt der Roman, so als wollte er sagen: „Macht mit bei der Erzählung! Macht euch schuldig!“
Die Erzählung versucht die Menschen zu beugen und versucht sie in sich hineinzuzwingen, ganz so wie Putins Krieg es tut mit den Menschen in der Ukraine. Sie tut ihnen Gewalt an, zerstört ihre Leben und spuckt sie am Ende aus wie Schiffbrüchige, die – wenn sie Glück haben – an Land gespült werden.
Doch nicht alle haben dieses Glück. Denn kannte Melvilles Allegorie im Schiffbruch noch die Utopie des Aufhörens der Erzählung, so ist uns diese heute, angesichts ihres nuklearen Elements, unwägbar geworden. Also arrangieren wir uns erst einmal, machen irgendwie weiter und fragen uns, wie sie zu stoppen ist. Dabei ist nur eines sicher: Ihr selbst eine Erzählung entgegenzuhalten wird nicht ausreichen, weil sie das Unheilvolle doch nur wiederholt. „Moby Dick“ endet mit dem verstörenden Bild der Vögel, die „kreischend über dem noch gähnenden Abgrund“ fliegen. Wollen wir diesem Abgrund entkommen, so läge ein Anfang in der Formel: Misstraut den Erzählungen!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“