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Anachronismen im Fast-food-Alltag

Die Delis in New York. Die klassischen jüdischen Restaurants sind mit köstlichen Pastrami-Sandwiches die geheime Rache an vegetarischen New-Age-Pizzerien und makrobiotischen Saftbars  ■ Von Monika Schmittner

Was Sightseeing-Touristen ihr Empire State Building oder Lady Liberty, das ist kulinarisch Interessierten der Besuch eines Deli in New York. Gemeint sind nicht die gewöhnlichen deli-groceries an jeder Ecke, diese typische New Yorker Mischung aus deutschem Tante-Emma-Laden, französischem Traiteur und amerikanischem Schnellimbiß, die rund um die Uhr warmes Essen anbieten. Ich spreche von den klassischen jüdischen, überwiegend koscheren Delikatessen-Restaurants – kurz Delis genannt –, von denen sich eine gute Handvoll in Manhattan erhalten hat und die in erster Linie von den New Yorkern selbst frequentiert werden.

Delis lassen sich nur schwer beschreiben: Hier werden die kalorienreichsten, üppigsten und schmackhaftesten Sandwiches kreiert, die je ein Mensch gesehen hat, so dick belegt, daß man nicht weiß, wie man ohne Schaden in sie hineinbeißen soll. Sandwiches mit Pastrami, Corned Beef, Truthahn oder Lox (Lachs), zwischen einem Rye Bread (Roggenbrötchen) oder Bagel, jenem ringförmigen Backwerk aus Sauerteig, das zur New Yorker Alltagskultur gehört. Dazu gibt es saure oder süßsauer eingelegte Pickles und hausgemachten Cole Slaw (Krautsalat). Hier kommt man nicht her, um zu essen, sondern um Essen zu einem Erlebnis werden zu lassen. Delis sind gastronomische Anachronismen in einer Welt voller Fast-food- Ketten einerseits und gesundheitsbewußtem, kalorienreduziertem Ernährungsverhalten andererseits. Delis sind sozusagen Dinosaurier einer im Aussterben begriffenen Essenskultur ostjüdischer Prägung.

Eine solche Ikone ist das Carnegie Delicatessen & Restaurant an der Seventh Avenue, zwischen 54. und 55. Straße, mitten im Theaterdistrikt von Manhattan und Schauplatz von Woody Allens Erfolgsfilm „Broadway Danny Rose“. 1933 von ostjüdischen Einwanderern gegründet, bewirtet es in seinen drei Gasträumen jährlich mehr als eine dreiviertel Million Besucher. Carnegie's ist berühmt für seine Pastrami-Sandwiches. Als vor vielen Jahren im Carnegie Deli eingebrochen wurde, soll der Besitzer Leo Steiner entgeistert ausgerufen haben: „Idioten! Sie haben nur das Geld genommen und unsere Pastrami-Sandwiches übriggelassen.

Pastrami leitet sich vom rumänischen pastrama ab und bedeutet eine in Osteuropa seit fünfhundert Jahren praktizierte Fleischkonservierung. Jedes Deli hat seine individuelle, streng geheime Rezeptur, die nur im Familienkreis weitervererbt wird. Zumindest soviel ist durchgesickert: Schulterstücke vom Rind oder Bruststücke vom Truthahn werden mindestens eine Woche in einer Gewürzlake eingelegt, danach ungefähr sechs Stunden auf niederer Flamme geköchelt und über grünem Laubholz geräuchert. Das Carnegie Deli häuft ein knappes Pfund handgeschnittener Scheiben zwischen das Roggenbrötchen, stattliche 20 Zentimeter hoch. Wer sein Pastrami-Sandwich genießen will, muß den Gedanken an den Cholesterinspiegel rigoros beiseite schieben. Pastrami-Sandwiches sind die geheime Rache all jener meatoholics, die in vegetarischen New-Age-Pizzerien, makrobiotischen Saftbars und Öko-Burger-Drive-ins von der amerikanischen Ost- bis zur Westküste sehnsüchtig fleischlichen Genüssen nachtrauern.

Der üppige Imbiß spült sich am besten herunter mit einer eisgekühlten Dr. Brown's Cel-Ray Soda, eine Spezialität der New Yorker Delis und die einzige Limonade mit Selleriegeschmack.

Ein weiteres Kleinod koscherer Gastlichkeit ist das Stage Delicatessen and Restaurant, nur einen Block weiter, zwischen der 53. und 54. Straße. Hier haben die Sandwiches Namen von prominenten Gästen. Top-Favoriten sind zur Zeit das „Harry Connick jr.“- Sandwich (Pastrami, Corned Beef, Krautsalat mit Käse und russischem Dressing) und das „Mel Gibson“-Sandwich (Corned Beef, Truthahn-Pastrami, Roast Beef, Krautsalat mit Käse und russischem Dressing). Das Stage ist das einzige Deli, das sich auch außerhalb von New York erfolgreich etablieren konnte, mit Filialen in Boston, Cleveland, Atlanta, Las Vegas und Los Angeles. Weiter östlich, in der 59. Straße, unweit des renommierten Kaufhauses Bloomingdale's, gibt es noch Kaplan's Deli at the Demonico.

Weitere Wahrzeichen ostjüdischer Gastronomie finden sich etwas außerhalb des Zentrums von Manhattan, auf der Lower East Side, bequem mit der Subway zu erreichen. In den fünfziger Jahren ein blühendes jiddisches Theaterviertel und Epizentrum der jüdischen Gemeinde von Manhattan, ist die Gegend um die Orchard Street heute ein quirliger Basar, vor allem sonntags, dem Haupteinkaufstag. Die Geschäftszeiten richten sich nach jüdischen Gepflogenheiten, freitags schließen die Läden bereits am frühen Nachmittag und bleiben am Sabbat geschlossen. Männer mit Scheitelkappen und langen Bärten preisen auf den Gehsteigen ihre Waren an, und für einen Augenblick könnte man meinen, die alte Lower East Side sei immer noch die größte jüdische Stadt der Welt, die dieses Viertel einmal war.

Die Delis im East Village sind weniger nobel herausgeputzt als die Konkurrenz in Midtown Manhattan, dafür atmosphärisch sehr viel dichter und auf ihre Weise haimish, also gemütlich. Im Second Avenue Kosher Deli & Restaurant in der 10. Straße wird nicht nur besonders koscher gekocht, hier stehen Schüsseln mit süßsauer eingelegten Tomaten und Krautsalat bereits ganz selbstverständlich auf den Tischen. Ganz in der Nähe, in der East Houston Ecke Ludlow Street, befindet sich Katz's Delicatessen of Houston Street, das älteste und wohl archetypischste Deli in New York. Im Jahre 1888 von einer jüdischen Einwandererfamilie aus Rußland eröffnet, stellt Katz's – bildlich gesprochen – den Grand Central Station der Delikatessen dar.

Katz's mangelt es gänzlich an dem, was man heute postmodern unter „Ambiente“ versteht – oder vielleicht hat es auch zuviel davon, über Geschmack läßt sich bekanntlich streiten. Das Interieur des großen L-förmigen Raumes mit seinen mehr als dreihundert Sitzplätzen und einer breiten Fensterfront zur Straße hin strahlt den eigenwilligen Charme der fünfziger Jahre aus. Als der jetzige Besitzer Fred Austin und sein Partner Allan Dell 1988 das Katz's übernahmen (Austin wuchs in dieser Gegend auf und vertilgte sein erstes Pastrami-Sandwich bei Katz's im zarten Alter von drei Jahren!), bedrängten die Stammgäste sie, nichts an der Einrichtung zu verändern. So sitzt man immer noch auf einfachen Holzstühlen an langen Resopaltischen und unter dem ungemütlichen Licht greller Neonröhren. Die nachgedunkelten Wandpaneelen zieren jede Menge alter Reklameschilder und vergilbter Fotos von den jeweiligen Besitzern mit ihren berühmten Gästen: Barbra Streisand, Jerry Lewis, Jackie Mason... Leinwandberühmt wurden Katz's 1989 durch die legendäre Filmszene mit Meg Ryan in dem Hollywood-Erfolgsstreifen von Rob Reiner, „Harry und Sally“. Von der Decke baumeln nostalgische Schilder mit der Aufforderung „Send a Salami to your Boy in the Army“ – ein Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg, als die drei Söhne des damaligen Besitzers mit vielen anderen amerikanischen Söhnen Nazi-Deutschland befreien halfen und besorgte Mütter zur Aufbesserung der Frontration pralle Essenspakete mit Katz's Salami nach Übersee schickten.

Um die koschere Dauerwurst rankt sich dabei eine abenteuerliche Geschichte, die gerne kolportiert wird: Als gegen Ende des Krieges den amerikanischen Artillerietruppen die Granaten ausgingen, ballerten sie kurzentschlossen Katz's Salami auf deutsches Gebiet. Diese unorthodoxe Feindeinwirkung hatte weitreichende Folgen. Von der unbekannten Munition mit dem unwiderstehlichen Geruch magisch angezogen, aßen Hitlers Soldaten die seltsamen Geschosse begeistert auf, erkannten neidlos die Überlegenheit des Gegners an und liefen in Scharen zu den Amerikanern über. Auf diese Weise, so erzählt Fred Austin nicht ohne Augenzwinkern, sei der Krieg vorzeitig beendet worden.

Am Eingang erhält jeder Gast eine Eintrittskarte. Auf der Rückseite notiert das Personal die einzelnen Dollarbeträge, gezahlt wird beim Verlassen des Lokals. Väterlich sorgende Kellner in langen weißen Halbschürzen bedienen auf Wunsch die Gäste am Tisch. Wesentlich spannender ist jedoch das althergebrachte Selbstbedienungssystem. Man ißt schließlich auch mit den Augen und der Nase. Hinter der langen Theke warten mindestens fünfzehn weißgekleidete Köche darauf, ihre Delikatessen an den Mann oder die Frau zu bringen: Franks, Würstchen aus reinem Rindfleisch im Naturdarm mit dem knackigen Biß auf dampfendem Sauerkraut, Knoble- und Knockwurst, Corned und Rolled Beef, Gefilte Fish, Knishes, in Fett ausgebackene warme Teigkissen mit einer Füllung aus Kartoffelbrei und Hackfleisch, oder Blintzes, mit Obst oder Käse gefüllte Crêpes, die mit Sauerrahm serviert werden... Und nicht zu vergessen: Katz's unvergleichliche handgeschnittene Pastrami. Vier- bis fünftausend Pfund gehen hier jede Woche über die Theke.

Die Regale an der Rückwand sind prall gefüllt mit geräuchertem Nova-Scotia-Lachs, Schüsseln mit hausgemachtem Kartoffel-, Kraut- und Makkaronisalat und tongues, Zungen, rauh wie Schmirgelpapier und jede von der Größe eines Brotlaibes. Die legendären Salamiwürste hängen wie Orgelpfeifen von der Decke. Es ist Ehrensache, jeden neuen Präsidenten bei seinem Amtsantritt mit einer Salami von Katz's zu verwöhnen. Enthusiastische Dankschreiben aus dem Weißen Haus von Jimmy Carter, Ronald Reagan oder Bill Clinton können im Straßenfenster nachgelesen werden.

David – „King David“, wie er sich selbst voller Stolz nennt – managt seit 54 Jahren die Salami- und Pickles-Abteilung. In großen Holzbottichen duften verführerisch rohe, pikant marinierte knoblauchige Gurken, grüne Tomaten und dillsudige Zwiebeln, von denen jede Woche fünfzehn 230-Liter-Fässer verzehrt werden. Zum Geheimnis seiner berühmten Gewürzpickles befragt, gibt „head counterman“ David nur soviel preis: Das Gemüse wird mehrere Tage gewässert, angereichert mit Knoblauch, Zwiebeln, Sellerie, Senfkörnern und Kräutern, ohne Essig. Je länger im Wasser, desto saurer – und in der Tat: Katz's big sours treiben selbst eingefleischten Stammgästen die Tränen in die Augen und lassen sie mit lustvoller Schmerzensbereitschaft die Lippen zusammenziehen. Was Katz's Deli von seinen Midtown-Brüdern unterscheidet, ist nicht nur sein Alter und seine Atmosphäre, sondern auch seine Gäste. Obwohl Fotos von Filmstars und Präsidenten in den Fenstern stehen, sind die meisten Stammkunden immer noch waschechte New Yorker, soweit ein New Yorker überhaupt waschecht sein kann. „You don't have to be Jewish to enjoy a combination sandwich“ lautet die Devise.

Katz's Gäste – wie auch das Personal – repräsentieren einen Mikrokosmos des Schmelztiegels an der amerikanischen Ostküste. Ellbogen an Ellbogen sitzen Menschen aus allen ethnischen, politischen, religiösen und sozialen Lagern und Schichten friedlich beisammen. Cops in Uniform mampfen einträchtig ihre Sandwiches neben Punks mit blau und grün gestylten Haaren, alte Veteranen halten Ausschau nach ihresgleichen, ein verschwitzter Trucker in Latzhose reicht einer vornehmen Lady Heinz' Tomatenketchup. Hier trifft sich generationenübergreifend eine multikulturelle Gesellschaft, die zumindest eines verbindet: der Genuß an Katz's herrlichen Delikatessen.

Adressen:

* Carnegie Delicatessen & Restaurant, 854 Seventh Ave., zwischen 54th und 55th Street, Tel. 757-2245

* Stage Delicatessen and Restaurant, 834 Seventh Ave., zwischen 53rd und 54th Street, Tel. 245-7850

* Kaplan's Deli at the Delmonico, 59th Street East, Tel. 755-5959

* Katz's Delicatessen of Houston Street, 205 Houston Street Ecke Ludlow Street, Tel. 254-2246 (F- Train bis zur Houston Street/ Second Ave., drei Blöcke weiter östlich)

* Second Avenue Kosher Delicatessen & Restaurant, 156 Second Avenue, Tel. 677-0606 (Train 6 bis Astor Place, zwei Blöcke weiter östlich und nördlich)

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