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An der Grenze von Mexiko in die USADie Helfer der verlorenen Migranten

Wer als Flüchtling in El Paso/USA bei Rubén García landet, ist nicht frei. Die Haft ist vorbei, doch es folgen Fußfesseln. García kämpft für sie.

Unter ungeklärten Umständen in US-Haft verstorben: Jakelin Caal Foto: reuters

El Paso taz | Die kleine Jakelin Caal hatte es geschafft. Gemeinsam mit ihrem Vater Nery Caal war sie aus Alta Vera­paz in Guatemala aufgebrochen, hatte Mexiko durchquert, war bei Janos im Bundesstaat Chihuahua mit einer großen Gruppe klandestin Reisender über die unbefestigte Grenze gegangen.

Dort, wo einsame Landstraßen zwischen niedrigen Gras­büscheln und Kakteen diesseits und jenseits der Grenze verlaufen und klapp­rige Straßenschilder abgelegene Farmen ankündigen. Die imaginä­re Linie im Wüstensand, die seit 1848 die Grenze zu den USA markiert, ist heute für Hunderttausende Menschen gleichbedeutend mit der finalen Ziellinie in ein neues Leben.

Vielleicht hat die siebenjährige Jakelin den kniehohen Holzzäunen, die diese Grenze markieren, gar keine Beach­tung geschenkt, als sie in das Land gelangte, das ihr Vater mit ihr angestrebt hatte. Sie lieferten sich der migra, der US-Border Patrol, aus, um ihr Asylanliegen vorzu­bringen.

In dem kleinen Grenzposten von Antelope Wells wurden sie vorläufig inhaftiert, bis man sie nach Lordsburg im US-Bundesstaat New Mexico brachte. Die eineinhalb­stündige Busfahrt sollte Jakelins letzte werden. Sie kollabierte und wurde mit dem Hubschrauber ins Kranken­haus der nächstgelegenen Großstadt El Paso, Texas, geflogen, wo sie für tot erklärt wurde.

Rubén Garćia verlangt Aufklärung

„Wir fordern eine umfassende Aufklärung der Umstände von Haft, Transport und Todesursachen“, sagt Rubén García. Der weißhaarige schlanke Mann in Hemdkragen und Pullover ist Leiter des Annuntiation House in El Paso. Ein alter Backsteinbau auf einer Straßenabzweigung, der an eine Villa Kunterbunt erinnert. Das im spitzen Winkel geschnittene Haus mit verwinkelten Holztreppen und Gängen ist in warmen Farben gestrichen.

Die Jungfrau von Guadalupe, die Schutzheilige Mexikos, strahlt vom Treppenaufgang, in den Kellergewölben stapeln sich akkurat geordnete Kleiderspenden, Hygieneartikel, Spiel- und Malzeug, Taschen und Turnschuhe zur Auswahl für die „Gäste“, wie die durchreisenden Bewohner hier respektvoll genannt werden.

Das hier sind Jugendliche! Es sind keine Kriminellen, sondern Asylsuchende

Diana Martínez, Aktivistin

Seit den Bürgerkriegen der 1980er Jahre in Mittelamerika hat das Haus Menschen auf der Flucht eine Bleibe gegeben. In vergangenen Zeiten wurden hier wöchentlich rund 300 Men­schen aufgenommen. „Die meisten von ihnen werden von den Einwanderungs­behörden bis zum Asylverfahren in unbestimmter Zukunft entlassen“, so García.

Doch in den letzten Monaten habe sich die Lage zugespitzt. Seit Weihnachten seien es zehnmal so viele, die die US-Behörde für Zoll- und Grenzschutz vorläufig aus der Haft entlässt – bis zu einem Schnellverfahren, bei dem nur ein Bruchteil der Migranten als Flüchtlinge anerkannt wird. Doch für die katholischen Herbergen in der Grenzstadt zählt zunächst nur eins: die humanitäre Lage.

Ausgesetzt ohne Nahrung und Orientierung

Als ein eisiger Wind Tempera­turen unter null Grad in die Grenzstadt in der Wüste trägt, werden Busladungen von Männern und Frauen mit frierenden Kleinkindern und Babys in der früh untergehenden Winter­sonne in einem öffentlichen Park ausgesetzt. Ohne Essen, ohne Geld und ohne Orientierung, wohin sie sich wenden sollten. „Die Migrationsbehörden kündigen uns normalerweise an, wenn sie eine Gruppe ent­lassen, wir sind dann vorbereitet, um die Menschen in Empfang zu nehmen“, erklärt Rubén García und zieht die Stirn in Falten. Noch nie habe jemand auf der Straße schlafen müssen, betont er.

Das Annuntiation House stemmt die Notlage mithilfe von Frei­willigen, dank Essens- und Geld­spenden, angemieteten Hotel­zimmern und dem Bemühen, die Klein­familien mittels der Überlandbusse von Greyhound und US-Inlands­flügen zu Angehörigen im Land zu bringen. Von staatlicher Seite gibt es dafür keine Unterstützung.

Wir schliefen im Stehen, manchmal abwechselnd im Sitzen, eingepfercht wie Vieh

Aleida* über ihre Behandlung in der US-Haft

Abseits der logistischen Höchstleistungen versucht das Anwaltsteam des Hauses Klarheit in den Fall Jakelin zu bringen. „Beunruhigend ist, dass der Fall zunächst nicht öffentlich gemacht wurde“, heißt es. Anschließend habe die Grenzpolizei jegliche Schuld von sich gewiesen und indirekt den Vater Nery Caal für den Tod seiner Tochter verant­wortlich gemacht.

Die Regie­rungs­angaben widersprechen allerdings den Aussagen Caals. Deswegen spricht nun Rubén García für ihn. „Jakelins Vater berichtet, dass seine Tochter auf der Reise keinen körperlichen Strapazen ausgesetzt war und sie stets zu essen und zu trinken hatte.“ Der Vater Nery Caal habe die Beamten vor der Busfahrt nach Lordsburg informiert, dass sich Jakelin übergeben habe und ihr schwindelig sei. Ob die Beamten ihn verstanden haben, ist unklar.

Der Vater darf sein totes Kind sehen

Nery Caal spricht Maya Q’eqchi’ und Spanisch als Zweitsprache. Später muss er Formulare in Englisch unterschreiben, dessen er nicht mächtig ist. Einen Dolmetscher gab es nie für die kleine Familie aus dem Hochland Guatemalas.

Rubén García, der langjährige Unterstützer von Migranten an der Grenze, ermöglicht es, dass der 29-Jährige den Leichnam seiner Tochter noch einmal sehen kann, bevor sie ein Bestattungsunternehmen zu seiner Familie in die Gemeinde Raxruhá bringt und er in Abschiebehaft verbleibt.

US-Heimatministerin Kirstjen Nielsen reist erst an die Grenze, als mit dem achtjährigen Felipe Gómez Alonzo ein weiterer kleiner Jungen aus Guatemala im Gewahrsam der Grenzpolizei verstirbt. Doch nicht, um eine Entschuldigung auszusprechen. Die Medienbotschaft ist klar. „Für die Regierung Trump steht fest: Familien setzen das Leben ihrer Kinder beim irregulä­ren Grenzübertritt in die USA aufs Spiel, und nur eine Mauer kann das verhindern“, schließt García.

Ein Ort der Geborgenheit für Eltern und Kinder

Der kleine Bryan* aus Honduras’ Hauptstadt Tegucigalpa hat Glück gehabt. Vergnügt rennt er auf wackeligen Beinen durch den hellen heimeligen Aufenthaltsraum der Columban Mission und quietscht vor Freude, als ihn seine Mutter zu fangen versucht. Einen Block entfernt vom Annuntiation House in El Paso werden auch hier allein rei­sende Eltern mit kleinen Kindern untergebracht. Ein weiterer Ort, der nicht nur ein kurz­fristiges Zuhause, sondern auch Geborgenheit bietet – und ein starker Kontrast zu der als schroff beschriebenen Behandlung durch die US-Migrations­behörden.

Ausgesetzt an der Busstation: Freiwillige betreuen Migranten in El Paso Foto: reuters

Fünf bis zehn Tage werden dort alle Migranten inhaftiert, die sich direkt nach der Grenzüberquerung der Grenzpolizei ausliefern, um ein Asylgesuch vorzubringen. Eine Praxis, die nirgendwo festgeschrieben und doch in diesem Winter an der Grenze zum Gesetz geworden ist.

„Hmmm!“, macht die 22-jährige Aleida* nur und verzieht das Gesicht, auf die Frage hin, wie sich die Beamten ihr und ihrem 15 Monate alten Sohn gegenüber in Haft verhalten haben. In Honduras wird ein ausdrucksstarkes „Hmmm!“, ein empörtes Ausatmen bei geschlossenem Mund, nur allzu gerne verwendet, um skandalös anmutende Umstände zu beschreiben. „Vierás“ (Wenn du das gesehen hättest …), folgt dann oft.

Furchtbare Geschichten über die Haft

Vor fünf Tagen, noch in Gewahrsam der Grenzpolizei, habe Bryan an Durch­fall und Erbrechen gelitten und verzweifelt geschrien. Seine Mutter legt den Beamtinnen eine Windel ihres Sohnes vor. Erst dann hätten sie ihr geglaubt, dass Bryan zu dehydrieren drohe. Er kommt in dasselbe Krankenhaus wie Jakelin, deren Fall in diesen Tagen gerade durch die Presse geht. Mit Medikamenten versorgt, werden die 22-jährige Mutter und das Baby anschließend zurück in die Zelle gebracht.

Die sei so groß gewesen wie das halbe Esszimmer hier, erzählt Aleida und steckt die Arme aus. Mit 60 Personen, Erwachsenen und Kindern, seien sie dort eingesperrt gewesen. Jetzt bleibt es an ihren Zuhörern, ungläubig die Luft auszustoßen. Wie sie denn da geschlafen habe? „Im Stehen, manchmal abwechselnd im Sitzen, eingepfercht wie Vieh.“ Um die Toilette ohne Tür zu benutzen, habe man sich gegenseitig eine der verteilten Rettungs­decken hochgehalten.

„Das habt ihr nun davon“, hätten die Beamten gefeixt, „‚Ihr wärt besser zu Hause geblieben‘, sagten sie uns.“ Dreimal am Tag bekommen sie tiefgefrorene, nicht aufgetaute Weizenmehl­tortillas mit Bohnen gefüllt. Aleida ist froh, dass die Freiwilligen in der Wohn­küche der Columban Mission warm dampfende Spaghetti zum Abendessen machen.

Unterwegs zu Verwandten – mit Fußfessel

Morgen wird sie den Überlandbus zu ihrem Schwiegervater nach Tennessee nehmen. Dieser hatte ihr einen professionellen Schleuser für eine risikoarme Reise in den Norden geschickt, nachdem der Vater des kleinen Bryan umge­bracht worden war und Aleida sich verstecken musste. Die Erinnerung an das Verbrechen wischt sie mit einer entschiedenen Handbewegung zur Seite. „Jetzt geht es darum, in Sicherheit zu sein.“

Bevor sie zum Duschen hochgeht, wendet sich Aleida noch an die Freiwilligen aus der Kirchengemeinde des Segundo Barrio, des alten Wanderarbeiterviertels von El Paso direkt an der Grenze. Ob ihr jemand die enganliegende Jeans aufschneiden könne? Sie kriege sie nicht über die Fußfessel. Ohne den schwarzen Plastikgurt um den Knöchel, der ein GPS-Signal aussendet, wird seit der im Sommer von der Regierung Trump ausgerufenen Null-Toleranz-Politik niemand mehr aus der Haft entlassen.

Eine Frau mit Wollschal und kurzen Haaren reagiert schnell und geschickt. Diese Frage gehört hier zum alltäglichen Ausnahme­zustand. Bis zum bald folgenden Asylverfahren müssen die Geflüchteten selbst dafür sorgen, sich zeitnah an die nächste Steckdose anzuzapfen, damit ihr mobiles Gefängnis stets aufgeladen ist.

Nur die wenigsten erhalten Asyl

Wenige der hier kurzfristig in die vermeintliche Freiheit Entlassenen dürften tatsächlich Asyl erlangen, im konservativen El Paso werden allein 94 Prozent aller Anliegen negativ beschieden. Allen Kosten, Strapazen und Risiken der weiten Reise zum Trotz, die die Menschen auf sich nehmen, folgt dann nach einem lang ersehnten kurzen Wieder­sehen mit der Familie die Abschiebung. „Catch and Release“ – erwischen und entlassen – nennt US-Präsident Donald Trump die Praxis der Vergabe von Fußfesseln. „Das ist ein Begriff aus dem Fischen“, schimpft die Freiwillige mit dem Wollschal und schüttelt energisch den Kopf. „Hier handelt es sich um Menschen.“

Eine Fahrtstunde südöstlich von El Paso konnten bis vor Kurzem rund 2.800 Jugendliche aus Mittel­amerika vom Wiedersehen mit ihren Familien nur träumen. Sie waren in einem Lager interniert; größer als fast alle US-Gefängnisse. Abseits des Highway 10 Richtung Dallas und San Antonio liegt die Ansiedlung Tornillo direkt an einer rostbraunen Mauer, die die Einwanderer aus dem Süden stoppen soll. Am Horizont zeichnen sich schemenhaft schroffe niedrige Bergketten ab. Dürre und Kälte haben Baumwollfelder braun vertrocknen lassen. Über die Ebene pfeift ein eisiger Wind. Sucht man ein geografisches Sinnbild für Einsamkeit und Isolation, wird man in Tornillo fündig.

Hier draußen in der Wüste ist das Klima stets extrem. Als im Juni 2018 die ersten sand­farbenen Großraumzelte in akkuraten Reihen auf dem Gelände der Grenzpolizei am Grenzübergang Guadalupe–Tornillo aufgebaut wurden, waren die Temperaturen tagsüber auf 43 Grad Celsius angestiegen. Eine Hitze wie im Back­ofen. Und nun: eine Kälte wie im Gefrierschrank. Für die Internierung der Jugend­lichen zwischen 13 und 17 Jahren sei dies nebensächlich, gab der private Betreiber des Lagers an, die Baptist Child and Family Services (BCFS). Durch Generatoren angetrie­bene Klima­anlagen und Heizkörper schafften Abhilfe. Trink­wasser und Lebensmittel wurden in staubgebadeten Trailern herangefahren.

Nach Anga­ben der freikirchlichen Nicht­regie­rungs­organisation kostete ein Kind in Lagerhaft in der Wüste pro Tag rund 775 US-Dollar.

Ein Knast für Jugendliche

„Das hier sind Jugendliche! Es sind keine Kriminellen, sondern Asylsuchende.“ Diana Martínez lässt all das nicht mehr ruhig schlafen. Die Universitätsdozentin aus einer mexikani­schen Familie gründete bei Eröffnung des Lagers die Facebook-Gruppe „S.O.S. Für die inhaftierten Kinder. Was sollen wir tun?“. Filigraner Silber­schmuck rutscht über ihren Arm, als sie sich die langen Haare zurückstreicht. „Schon drei Tage später hatte die Gruppe über 1.000 Mitglieder.“ Doch das digitale Netzwerk zeigt auch Präsenz am Stacheldraht­. „‚No están sólos‘, (Du bist nicht allein): das ist unsere Botschaft“, verkündet Martínez stolz. Kinder­rechtler, demokratische Politikerinnen und Aktivisten versuchen sie über Transparente und Sprech­chöre direkt an der Lagerzufahrt zu vermitteln.

Über den Verstärker klingt Musik weit über das Feld und die mit blickdichtem schwarzen Plastik verstärkten Maschen­drahtzäune. Eine junge Frau im wehenden Rock singt mit klarer Stimme und Akustikgitarre spanische Weihnachts­lieder. Es sind emotional aufgeladene Stücke, allseits bekannt, die die Familien normalerweise unterm Weihnachtsbaum hören, wenn in der gesamten Region traditionelle tamales, gefüllte Maisklöße, zum Fest geges­sen werden. „In Tornillo gab es noch nicht einmal eine Umarmung zu Weihnachten, das ist für die Jugendlichen verboten“, erklärt Diana Martínez empört.

In der Ferne sind die Jugendlichen aus­zu­machen, wie sie in Reihen und flankiert von Angestellten in Neongrün zwischen Zelten, Containerbauten, blauen Toilettenhäuschen und einem Fußballplatz herum­geführt werden. „Die Minderjährigen haben keine Ahnung, wie lange sie im Lager bleiben – das grenzt an psychologische Folter“, sagt Martínez. „Nach Behördenangaben sollen es durchschnittlich 50 Tage sein, doch Einzelne sind seit Juni hier. Die Regierung Trump hält sie als Faustpfand“, so Martínez.

Dabei könnte die große Mehrheit bei direkten Angehörigen in den USA ein Asylver­fahren abwarten. Doch Eltern, Großeltern, Onkel, Tanten, die sich melden, um sie bis zum Asylverfahren bei sich aufzunehmen, mussten sich selbst sowie alle mit ihnen in einem Haushalt lebenden Menschen mittels Fingerab­drücken von FBI und Migrations­behörden durchleuchten lassen. Laut der Polizei- und Zollbehörde ICE hat dieses Verfahren bis Dezember 170 Abschiebungen von Familienangehörigen zur Folge gehabt. Rund 1.700 Personen haben es trotzdem gewagt und sich gemeldet, um ein Kind der Familie in Obhut zu nehmen. Kurz vor dem Jahreswechsel ruderte die Regierung von Donald Trump zurück; nur noch der Antragsteller selbst wird seitdem durchleuchtet.

Mitte Januar wird klar, warum das bürokratische Verfahren verkürzt wurde. Das Lager wird geschlossen. Für Diana Martínez ist es das Ende eines Albtraumes. Und doch weiß sie, Tornillo war nur die Spitze des Eisberges. „Die Inhaftierung mittel­ame­ri­ka­ni­scher Kinder und die Trennung von ihren Familien ist unter Trump zur Nor­ma­lität geworden.“ 6.200 Jugendliche wurden in den acht Monaten seines Bestehens in Tornillo gefangen gehalten. 11.400 Minderjährige befinden sich laut dem US-Ministerium für Gesundheitspflege und Soziale Dienste (HHS) weiterhin in staatlichen Einrichtun­gen.

*Name von der Redaktion geändert

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