"Amok-Droge" Tilidin: Medial aufgeputscht
Zeitungen schreiben, die In-Droge Tilidin mache die Berliner Jugend gewalttätig. Vor allem Migrantenkids. Suchtberater und Streetworker sehen das anders.
"Hemmungslose Gewalt: Trend-Droge lässt Jugendliche durchdrehen". Nein, es geht nicht um Alkohol. Vielmehr betitelt Spiegel Online so einen Artikel über Tilidin, eine Droge, die laut Bericht vor allem von jugendlichen Kriminellen konsumiert wird, "bevor sie Läden ausrauben oder Leute verprügeln". Die Droge, die U-Bahn-Schläger macht?
Nein, sagt die Psychologin Mechthild Beitlich: "Tilidin bringt niemanden per se zum Durchticken." Beitlich arbeitet in der Arbeitsgemeinschaft Drogenprobleme in Neukölln und hält nichts von dem Begriff "Amokdroge", wie ihn ein Boulevardblatt benutze. Und mit Jugendlichen, die sich unter Tilidin-Einfluss "wie Berserker aufführen", wie es auf Spiegel Online heißt, habe sie in der Suchtberatungsstelle auch nicht zu tun.
Tilidin ist ein Opioid. Es wirkt in der Regel schmerzlindernd, beeinträchtigt das Wahrnehmungsvermögen und die Fahrtüchtigkeit und kann die Grundstimmung des Konsumenten verstärken. In der Apotheke erhältlich ist es als Wirkstoff in dem starken Schmerzmittel Valoron N, das unter anderem für Krebspatienten eingesetzt wird - natürlich nur auf Rezept. Berliner Apotheker fordern allerdings, Tilidin in das Betäubungsmittelgesetz aufzunehmen - aufgrund des erhöhten Missbrauchs.
Aber ist Tilidin denn nun die neue Trenddroge unter Migrantenkids? Da ist man sich unter Berliner Suchtberatern und Streetworkern nicht ganz einig.
"Tilidin ist in bestimmten Milieus, besonders bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund, sehr beliebt. Weil es das Schmerzempfinden lindert, was zum Beispiel bei körperlichen Auseinandersetzungen praktisch ist", sagt Mechthild Beitlich. Straßensozialarbeiter Jürgen Schaffranek von Gangway e. V. hingegen möchte das Phänomen nicht auf die Migrantenszene beschränken: "Tilidin gibt es in einer Jugendszene, die durch Benachteiligung auffällt. Aber dazu gehören Deutsche genauso." Auch mit dem Begriff "Trenddroge" würde er lieber vorsichtig sein: "Ich weiß, dass Tilidin bereits seit vier, fünf Jahren in der Szene verbreitet ist, und das auf relativ gleichbleibendem Niveau", sagt er. Von der Idee, Tilidin unter das Betäubungsmittelgesetz zu stellen, hält er nichts. "Das hat noch keinen Jugendlichen davon abgehalten, Substanzen zu nehmen. Es eröffnet nur einen neuen kriminellen Markt." Stattdessen fordert Schaffranek eine bessere Aufklärung. Auf seiner Internetseite informiert der Verein Gangway e. V. deswegen über Tilidin und entkräftet auch verheißungsvolle Gerüchte, die über die Wirkung von Tilidin im Umlauf sind - so zum Beispiel: "Auf Tilidin kannst du gut vögeln, weil es fast wie Viagra wirkt."
Über die tatsächlichen Folgen ihres Konsums seien sich die Jugendlichen selten im Klaren, meint auch Beitlich: "Denen wird Tilidin von ihren Kumpels empfohlen, die rutschen da so rein und sehen überhaupt keine Probleme", so Beitlich. "Und dann sind sie irritiert, wenn sie die Droge absetzen und Entzugserscheinungen bekommen." Die sind die gleichen wie etwa bei Heroinentzug - Zittern, Krämpfe, Schmerzen.
Tilidinkonsum ist keinesfalls unbedenklich, darüber ist man sich einig. Aber macht es Menschen zu brutalen Gewalttätern, wie viele Medien suggerieren? Bereits vor zwei Jahren entdeckte der Berliner Kurier Tilidin als wahre Zombiedroge: "Sie macht aggressiv. Sie macht willenlos. Sie macht einen zum Seelen-Monster", hieß es. "Ob Tilidin gefährlich macht? Quatsch!", sagt Jürgen Schaffranek dazu. "Das ist ein Schlafmittel. Wer aggressiv ist, der kann seine Aggression damit verstärken. Aber mehr auch nicht." LANA STILLE
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid