Ambivalenter Sehnsuchtsort: Warum haben Ostfriesen …
Ostfriesenwitze kennt jeder. Aber warum wurde ausgerechnet die Gegend am deutschen Westzipfel zur Zielschiebe?
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HAMBURG taz | Vor 17 Jahren bin ich aus Ostfriesland weggezogen, vor zehn Jahren war ich das bisher letzte Mal dort. Wenn ich in Berlin über das Kottbusser Tor gehe, erscheint mir kein Ort auf der Welt weiter entfernt als der Pilsumer Leuchtturm. Ostfriesland und Berlin liegen 500 Kilometer auseinander. In Berlin gibt es vermutlich alles, was man sich vorstellen kann, sogar eine Windmühle und vegane Hundenahrung und Koi-Karpfen, die den Leuten beim Mittagessen im Prenzlauer Berg die Fußsohlen kitzeln. Aber es gibt keinen Leuchtturm. Nur eine Kneipe, die so heißt.
Fünf Jahre habe ich in Ostfriesland gelebt, ich habe hier den Beruf des Journalisten erlernt, wie es so schön über das Volontariat heißt. Die Zeitung hieß „Ostfriesen-Zeitung“, und spätestens da fangen in Berlin die meisten Leute an zu lächeln. Dabei war es eine großartige Zeit, es gab noch 13 Monatsgehälter, als kleiner Volontär habe ich nachts Zeitungen ausgetragen, in Warsingsfehn und in Ihrhove, und mich in den Tickerbuden der Prä-Internetzeit in meterlange Nachrichtenpapierschlangen eingewickelt.
Ich habe über den Länderkampf im Klootschießen zwischen Ostfriesland und dem Oldenburger Land berichtet, bei minus fünf Grad auf den Äckern des Landkreises Wittmund, ich habe gestrandeten Pottwalen beim Platzen zugeguckt. Und wünsche dies meinem ärgsten Feind nicht, so zu riechen, wie die damalige Luft und wir danach, als dem Pottwal die inneren Winde entwichen.
Den alten Henri Nannen habe ich damals noch erlebt, ich habe mir stets vorgenommen, mal bei ihm in Emden zu klingeln und zu sagen: „Hallo, ich bin Volontär der Ostfriesen-Zeitung. Können Sie mir bitte Tipps geben, wie ich den Egon-Erwin-Kisch-Preis bekommen kann?“ Ich habe mich das aber nicht getraut, und das war wahrscheinlich schon einer der Gründe, warum ich den Preis bis heute nicht erhalten habe. Auch weil es ihn heute gar nicht mehr gibt, sondern er mittlerweile Henri-Nannen-Preis heißt.
Als der alte große Verleger dann gestorben war, haben meine Mitvolontärin Ute und ich in einem unbeobachteten Moment den Baum über seinem Grab umarmt und gemurmelt, der Geist des Zeitungsmannes soll über uns kommen. Nichts regte sich, nur der ostfriesische Westwind wehte unbeeindruckt weiter.
In Ostfriesland gab es eine Sparkassenfiliale, die während meiner Zeit bei der Zeitung bestimmt vier Mal überfallen wurde, weil sie an einer Kreuzung lag, von der man in alle möglichen Himmelsrichtungen entfliehen konnte. Und in alle Himmelsrichtungen entfliehen – das war schon immer wichtig in Ostfriesland. Nach Groningen über die niederländische Grenze, nach Oldenburg, Bremen gar. Oder die, die so richtig etwas wagten, schafften es bis Hamburg. Endstation Sehnsucht. Der „Silbersack“ auf Sankt Pauli.
Ostfriesland ist dagegen für mich ein Sehnsuchtsort geblieben. Am Borkumkai in Emden auf der Bank zu sitzen, damals, als er noch nicht zu einem gesichtslosen Umschlagplatz umgebaut war, sondern man dabei zugucken konnte, wie die Schiffe aus der Ems in die Nordsee entlassen wurden. In die große weite Welt. Oder an der Knock ein bisschen weiter emsabwärts, wo die Schlote aus den Niederlanden von der anderen Flussseite grüßten, wo es sogar so etwas wie einen Strand gab und das Denkmal des Alten Fritz in die Ferne blickte. Da konnte jeder nach seiner Façon selig werden.
Ostfriesland, das sind die Inseln von Norderney bis Langeoog, um die mich meine alten Freunde beneideten. „Du arbeitest da, wo andere Leute Urlaub machen.“ Dabei gehörten für mich die Inseln nie so recht dazu. Abgesehen davon, dass die Hubschrauberflüge vom Festland auf die Inseltermine meinen Magen kieloben treiben ließen, sodass ich mich bei der Landung fühlte wie ein gestrandeter Pottwal. Die Inseln führten ihr Eigenleben mit all den Touristen aus Nordrhein-Westfalen in ihren Gummistiefeln, die im Watt nach Bernstein suchten und natürlich nie etwas fanden.
Ostfriesland war für mich nicht Juist oder Norderney, sondern vor allem die Krummhörn, jene knorrige Landschaft hinterm Deich mit ihren merkwürdigen Dorfnamen Freepsum, Hamswehrum und Manslagt, Upleward und Grimersum. Wo die Marketing-Menschen der Region versuchen, mit Krabbenpuhl-Wettbewerben die Urlauber anzulocken. Aber die Krabben heißen in Ostfriesland nicht Krabben, die heißen Granat.
Irgendwann muss man Ostfriesland verlassen, man sollte nicht dort bleiben. Nach fünf Jahren sollte man wieder in eine Stadt ziehen, in der es vielleicht sogar mehr als ein Kino gibt. Für mich war das erst Hamburg, dann Berlin.
Aber in jedem Jahr, wenn es Ostern wird und ich daran denke, dass jetzt in Ostfriesland weithin sichtbar die gewaltigen Osterfeuer brennen, wenn es November wird und man sich am Jenever warm halten kann oder beim Tanzen bei Meta in Norddeich – wenn ich mich daran erinnere, an die leichten Tage des Emder Filmfestes oder die Schwere des Himmels über dem Großen Meer. Ich müsste doch mal wieder hinfahren.
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