Am Nagel der Welt - Weißrussland: "Lukaschenko mag keine Privatwirtschaft"
Elena Nowitschenko arbeitet als Nageldesignerin in Mosyr/Belarus. Dort sind Kunstnägel ein Zeichen für Erfolg im Geschäftsleben
In Deutschland haben sie den Ruf einer Prekariatsmode, in Belarus sind sie der neueste Businesschic: Acrylnägel. Aufgeklebte Kunstnägel, die sich krallenförmig, rund oder quadratisch feilen und mit Tigermustern, Blumen oder Strasssteinchen verzieren lassen. Nägel für Menschen, die ihre Hände weniger als Werkzeug denn als Accessoire begreifen.
"Früher wurde in dieser Gegend schwer gearbeitet", sagt Elena Nowitschenko. "Wer das nicht mehr nötig hat, demonstriert das. Auch mit den Händen." So kämen zu ihr vor allem Businessfrauen. Manchmal auch Männer, aber die wollten keine Kunstnägel.
Elena Nowitschenko, 29, ist Nageldesignerin. Ihr Arbeitsplatz liegt in einem neu errichteten Einkaufszentrum in Mosyr, einer 100.000-Einwohner-Stadt im Südosten von Belarus. Zu Sowjetzeiten war die Region als "Kurzentrum" bekannt, weil KPdSU-Funktionäre dort mit Vorliebe ihre Herz- und Leberleiden kurierten. Dann explodierte im nahe gelegenen Atomkraftwerk Tschernobyl ein Reaktorblock, ein Großteil des Landkreises wurde verstrahlt. Tausende verließen die Region, vor allem gut ausgebildete junge Leute.
Elena Nowitschenko hatte nie vor zu gehen. "Man muss sich da nützlich machen, wo man geboren wurde", sagt sie. Nach der Schule wollte sie ihren Beitrag zunächst durch Gründung einer Familie leisten. Sie heiratete, wurde schwanger, die Ehe kriselte, und dann war der Mann weg. Elena saß allein mit ihrer Tochter zu Hause und machte sich Sorgen um die Zukunft. Eines Tages rief eine Verwandte aus Kiew an und erzählte von einem fantastischen Job: Nageldesignerin! Das sei ein moderner und kreativer Beruf. Und gut leben könne man davon, bis zu 1.500 Dollar im Monat verdienen.
Als Elena sich an einer Maniküre-Schule in der Hauptstadt Minsk anmelden wollte, schimpften ihre Eltern: "Wie kannst du nur so viel Zeit in ein Hobby investieren?" "Ich hab ihnen das nicht übel genommen", sagt Elena. "Sie haben doch fast ihr ganzes Leben in der Sowjetunion verbracht. Und da gab es so einen Beruf noch nicht." Einen Monat lang nahm sie Einzelunterricht bei einer namhaften Nageldesign-Dozentin, lernte, mit Knipser und Kleber umzugehen, ließ sich erklären, wie man den Nageltyp eines Kunden erkennt und welches Nageldesign zu welchem Anlass passt.
Elena Novitschenko, Alter: 29 Wohnort: Mosyr, Belarus Familienstand: geschieden, ein Kind Wohnung: bei den Eltern Beruf: Nageldesignerin und Studentin Arbeitgeber: Studio "Nail Stil", Privatunternehmen Verdienst: 200.000 BYR, 51 Euro pro Monat Ausbildung: Abitur (Äquivalent), Nageldesign-Diplom, Fernstudium Chemieingenieurswesen Hobbies: Historische Romane lesen Kleidungsstil: tagsüber sportlich, abends feminin. Nie ohne Make-Up. Fingernägel: 10 cm, krallenförmig, Grundfarbe rot, mit schwarzem Wellenmuster Zukunftswunsch: Eine Stelle als Ingenieurin in der Ölbranche
Staatsgründung: Ende 1991, davor Teilrepublik der Sowjetunion Hauptstadt: Minsk Fläche: 207.595 Quadratkilometer Einwohnerzahl: knapp 10 Millionen Bevölkerungsdichte: 47 Einwohner pro Quadratkilometer Amtssprachen: Russisch, Weißrussisch Grenzen: Westen: Polen. Norden: Litauen und Lettland. Osten: Russland. Süden: Ukraine. Staatsform: Präsidialrepublik Staatsoberhaupt: Präsident Alexander Lukaschenko Wirtschaftsform: Planwirtschaft (mit marktwirtschaftlichen Elementen) Währung: Belarussische Rubel (BYR) BIP pro Einwohner: 7.325 US$ Geheimdienst: KGB
Mit einem Diplom im Gepäck kehrte sie nach Mosyr zurück und fand einen Job in einem Nagelstudio, einem der ersten Privatunternehmen in der Stadt. Die sind in Belarus jetzt zwar offiziell zugelassen, inoffiziell aber wird ihnen das Leben so schwer wie möglich gemacht - durch wahnwitzig hohe Steuern, eine ausufernde Bürokratie und Buchführungspflichten, die auch in Kleinstunternehmen nur eine ganze Heerschar von Buchhaltern bewältigen können.
Was sie von den Forderungen Europas halte, dass Belarus sich wirtschaftlich öffnen solle? "Lukaschenko mag keine Privatwirtschaft", sagt Elena. "Der will verhindern, dass es hier wie in Russland wird: dass einige sehr reich werden und viele sehr arm." Elenas Chefin ließ sich trotzdem nicht abschrecken, denn ein Privatunternehmen, das war zumindest eine Chance, mit mehr Arbeitseinsatz auch mehr Geld zu verdienen. So dachte auch Elena, der ein Gehalt auf Provisionsbasis versprochen wurde.
Doch die Kunden ließen auf sich warten. Die Preise von "Nail Stil" sind so hoch, dass sich nur wenige Mosyraner eine Nagelverlängerung leisten können: 72.000 Belarussische Rubel, 18 Euro, kosten zehn Kunstnägel, Lack und "Nail Art Design" - vulgo: Bemalung. Techniken, Muster und Materialien unterscheiden sich kaum von deutschen Nagelstudios - was kein Wunder ist, denn sowohl die Nägel, sogenannte "French Tips", als auch die Gerätschaften zu ihrer Verarbeitung kommen größtenteils aus Deutschland.
Drei Kunden bedient Elena pro Tag, verdient damit im Durchschnitt 200.000 Rubel im Monat, rund 51 Euro. Für ein selbstständiges Leben reicht das nicht; nach der Scheidung ist sie wieder bei ihren Eltern eingezogen. Schlimm? Nein, eigentlich gefalle ihr das, so habe sie wenigstens immer jemanden, der die Kleine aus dem Kindergarten abholt, und wachsen und putzen müsse sie nun auch nicht mehr. Nein, sie wolle erst ausziehen, wenn sie sich eine Wohnung mit "Jewro-Remont", mit europäischer Renovierung, leisten könne. Irgendwann nach ihrem Studium.
Vor vier Jahren hat sich Elena an einer Fernuni eingeschrieben, Fachbereich Chemieingenieurswesen. In Mosyr steht eine große Raffinerie, die das Öl, das über die "Druschba"-Pipeline an der Stadt vorbeigeleitet wird, zu Benzin und Diesel veredelt. Und die zahlt die besten Gehälter der Region: bis zu 2 Millionen Rubel für Ingenieure. Die Studiengebühren für die Fernuni übernimmt Elenas Vater, der als Mathematiklehrer an einer Schule arbeitet. Nur für die Diplomarbeit muss seine Tochter allein aufkommen. 300 Dollar hat ein Dozent dafür verlangt, Elena hat eingewilligt, die Arbeit liegt schon beim Prüfungsamt. "Bei Fernstudien ist es üblich, die Abschlussarbeit zu kaufen", erklärt eine Kundin, der Elena gerade pinkfarbene Mohnblumen auf die Nägel pinselt. "Wenn einer das nicht will, lässt man ihn erst einmal durchfallen."
Eigentlich habe sie Ärztin werden wollen, sagt Elena. Aber ihre Eltern hätten sie davon abgebracht: Es gebe schon zu viele Ärzte in der Familie, und die würden in den staatlichen Polikliniken nur einen Hungerlohn bekommen. Lieber solle sie sich bei einer internationalen Firma bewerben. Natürlich befolgte Elena ihren Ratschlag: "Sie wollen doch ein gutes Leben für mich." Was ein gutes Leben ist? "Ein gutes Leben hängt nicht davon ab, in welchem System man lebt", sagt sie. "Es ist ein Leben, in dem man seine Zukunft planen kann."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen