piwik no script img

Im Wohnheim in Dublin ist Platz für zwölf Menschen mit Downsyndrom und Demenz, Fachleute aus aller Welt reisen an Foto: Kathrin Harms

Alzheimer bei DownsyndromDas große Vergessen

Menschen mit Downsyndrom bekommen fast immer auch Alzheimer. Im Unterschied zu Deutschland haben Länder wie Irland und Spanien das längst verstanden.

W elcher Tag ist heute?“ Melanie Hoffmann*, 46 Jahre alt, lässt den Blick durch das Sprechzimmer wandern und schaut hilfesuchend zu ihrem Vater. Ihr gegenüber sitzt die Neuropsychologin Elisabeth Wlasich. Sie blickt Hoffmann freundlich an und fragt weiter: „Welcher Monat?“ – „Nein“, antwortet Melanie.

„Wer ist das?“, fragt Wlasich und zeigt auf ein Bild von Queen Elizabeth der II. „Tot die Frau“, antwortet die Probandin, reibt sich die Augen und schmiegt den Kopf in die Achselhöhle ihres Vaters. „Es wird deutlich, wie anstrengend das für sie ist“, sagt die Neuropsychologin zu ihm. Dieter Hoffmann*, 68, sitzt neben seiner Tochter und sieht ebenfalls müde aus. „Wo sind wir?“, fragt Wlasich weiter. Melanie nennt den Ort im Saarland, in dem sie mit ihren Eltern lebt. „Wo bist du jetzt gerade?“ – „Hier.“

„Hier“, das ist die Ambulanz „Alzheimer bei Downsyndrom“ an der Neurologischen Poliklinik der Universitätsklinik München. Fünf Stunden mit dem Auto von Schiffweiler entfernt. „Hier“, das ist einer der wenigen Orte in Deutschland, wo es Hilfe für Menschen wie Melanie Hoffmann und ihre Familien gibt.

„Wir könnten noch eine Spinalpunktion machen, um die Diagnose zu sichern“, bietet Anna Stockbauer, die behandelnde Ärztin, an. Sie schaut erst zur Patientin, dann zu den Eltern. Stille. Alle wissen, dass auch eine Analyse der Rückenmarksflüssigkeit nur bestätigen wird, was auf der Hand liegt: Dass Melanie Hoffmann Alzheimer hat. Sie lebt nun nicht mehr nur mit dem Downsyndrom, sondern auch mit Demenz – und das mit 46 Jahren.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Der Kognitionstest bestätigt den Abbau, den die Eltern beobachten: Hoffmann hat 28 von 109 möglichen Punkten erreicht. Vor einem Jahr war sie zum ersten Mal hier, da waren es noch 40. „Wichtig ist jetzt, alles zu tun, um die Lebensqualität zu erhalten“, betont Elisabeth Wlasich. Hoffnung auf Heilung gibt es nicht.

Die Alzheimerkrankheit wird Melanie Hoffmanns Gehirn zerstören. Sie wird ihr die Erinnerungen nehmen und schleichend auch jede einzelne der Fähigkeiten, die sie sich mühsam angeeignet hat. Sie wird ihre Persönlichkeit verändern. Irgendwann, vielleicht in einem, vielleicht in fünf Jahren, wird sie ihre Eltern nicht mehr erkennen, nicht mehr laufen und nicht mehr selbstständig essen können.

Aller Wahrscheinlichkeit nach wird sie an dieser Krankheit sterben, denn Alzheimer zerstört auch lebenswichtige Regionen des Gehirns. Die Krankheit ist die Todesursache Nummer eins für Erwachsene mit Downsyndrom. Zwischen Diagnose und Tod liegen bei ihnen im Schnitt fünf Jahre.

Alzheimer ist eine brutale Krankheit, und ein Dieb. Sie raubt den Betroffenen erst die Selbstständigkeit, dann die Persönlichkeit, dann das Leben. Über 1,8 Millionen Menschen in Deutschland leben derzeit mit Demenz, Alzheimer ist die häufigste Form. Sogenannte Antidementiva mildern zwar mitunter Symptome, den Verlauf beeinflussen oder heilen können sie nicht.

Was nur wenig bekannt ist: Menschen wie Melanie Hoffmann, die mit dem Downsyndrom leben, haben im Vergleich zur „neurotypischen Bevölkerung“ ein viel höheres Risiko, an Alzheimer zu erkranken. Zwischen 80 und 90 Prozent der Menschen mit Trisomie 21 sind davon betroffen – auch wenn nicht alle die entsprechende Diagnose erhalten. Als „neurotypisch“ bezeichnet man ein durchschnittlich entwickeltes Gehirn; eines, das als „normal“ angesehen wird.

Pflegekraft Joanne Poral in Willowview, einem Wohnheim für Menschen mit Downsyndrom und Demenz, mit einer Bewohnerin Foto: Kathrin Harms

In Deutschland leben schätzungsweise 50.000 Menschen mit dem Downsyndrom. So gut wie alle werden an Alzheimer erkranken, es ist ihr „genetisches Schicksal“, wie Johannes Levin, Experte für neurodegenerative Erkrankungen am Klinikum der Universität München, es ausdrückt. Er hat die Ambulanz ins Leben gerufen, in der Melanie Hoffmann getestet wird. Zu Beginn „aus reinem Forschungsinteresse, aber dann ist da schon bald viel mehr draus entstanden“, sagt er. In seiner Arbeitsgruppe bündelt sich, was Deutschland an Kompetenz und Forschung zum Thema „Downsyndrom im Alter“ zu bieten hat. Viel ist das nicht.

Umso wichtiger ist die Zusammenarbeit mit Forschungseinrichtungen aus anderen Ländern. Im Rahmen von Horizon 21, einer internationalen Kooperation, haben sich Kli­ni­ke­r*in­nen und Forschende aus ganz Europa auf einheitliche Fragebögen und Testmethoden verständigt, um das Thema voranzubringen.

Denn der Körper von Menschen mit Trisomie 21 funktioniert anders, auch was das Altern angeht: Sie altern im Zeitraffer, entwickeln früh tiefe Hautfalten. Frauen kommen fünf bis acht Jahre früher in die Menopause, Autoimmunerkrankungen treten häufiger auf. Warum, das ist eine der Forschungsfragen, der die Münchner Arbeitsgruppe nachgeht. Auch die ersten Symptome von Demenz zeigen sich bei Menschen mit Downsyndrom häufig schon mit Mitte, Ende vierzig – so wie bei Melanie Hoffmann.

Vielversprechendes Medikament nicht zugelassen

Es gibt Anlass zu vorsichtiger Hoffnung: Antikörperbasierte Wirkstoffe wie Lecanemab und Donanemab greifen zum ersten Mal die Ursache der Alzheimerkrankheit an. Lecanemab ist unter anderem in den USA, in Japan, China und Südkorea bereits zugelassen und wird als Durchbruch gefeiert. Die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) hat jedoch im Juli 2024 überraschend die Zulassung abgelehnt, mit der Begründung, der Effekt des Präparats wiege das Risiko von beobachteten Nebenwirkungen nicht auf. Für alle, die auf das Medikament warten, ist die Ablehnung niederschmetternd. „Die Entscheidung ist nicht nachvollziehbar“, so Johannes Levin. Viele Fachleute halten die Zulassung des Wirkstoffs in Europa für eine Frage der Zeit.

Ironie des Schicksals: Die Tatsache, dass Menschen mit Trisomie 21 typischerweise an Alzheimer erkranken, war für die Forschung ein Glücksfall. Wis­sen­schaft­le­r*in­nen untersuchten an ihnen bereits in den 1980er Jahren, wann und wie sich Alzheimer entwickelt. Die „Amy­loid­theorie“, auf der die neuen Wirkstoffe wie Lecanemab aufbauen, gäbe es nicht ohne Menschen mit Downsyndrom.

Ob Lecanemab, als Medikament Leqembi genannt, auch für die Menschen mit Trisomie 21 irgendwann ein Glücksfall sein wird, steht allerdings in den Sternen: Wis­sen­schaft­le­r*in­nen raten derzeit davon ab, Leqembi bei Menschen mit Downsyndrom einzusetzen. Der Grund: Fehlende Datenlage. Menschen mit Trisomie 21 werden bislang nicht in Medikamentenstudien miteinbezogen.

Noch mal zusammengefasst: Menschen mit Downsyndrom entwickeln aufgrund ihres genetischen Baukastens fast immer eine Alzheimerdemenz. Rechtzeitig diagnostiziert werden nur wenige, fehlbehandelt die meisten. Und das, obwohl auch in Deutschland seit 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention gilt. Artikel 25 besagt, dass „die Vertragsstaaten […] das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung [anerkennen]“. Das betrifft auch die medizinische Versorgung im Alter – so die Theorie.

„Extrem unfair“, fand die Irin Mary Mc Carron den Umgang mit Menschen mit Downsyndrom bereits in den 1980er Jahren. Wer sich auf die Suche nach Best Practice macht, landet unweigerlich bei ihr, in Dublin. Mc Carron läuft im Stechschritt über den Campus des altehrwürdigen Trinity College, ein nasser Wind weht ihr durch Fönfrisur und Seidentüchlein, während sie erzählt. Nur im Gehen hat sie Zeit.

Alzheimer ist eine Krankheit der Jungen, die sich im Alter manifestiert

Juan Fortea, Neurologe

Die Mittfünfzigerin leitet eine weltweit einzigartige Einrichtung: das Trinity Centre for Ageing and Intellectual Disability (TCAID, Zentrum für Menschen mit kognitiver Einschränkung im Alter). Begonnen hat sie als Krankenschwester mit Spezialisierung auf Menschen mit geistiger Behinderung – ein Berufsbild, das es in Deutschland nicht gibt.

„Als ich angefangen habe zu arbeiten, habe ich viele Menschen mit Downsyndrom gesehen, die gesundheitlich in schlimmem Zustand waren. Man schien zu denken: ‚Das ist halt so, die werden eben alt und dement‘ – und damit war die Sache erledigt. Damals habe ich mir gedacht: Das werde ich ändern.“

Und das hat sie getan. Bereits Mitte der 1990er Jahre beginnt Mc Carron zum Zusammenhang von Downsyndrom und Alzheimer zu forschen und schreibt ihre Doktorarbeit darüber. Eine der Kohorten begleitet sie seit mittlerweile 25 Jahren in einer Längsschnittstudie. Im Jahr 2011 wird sie zur Dekanin der Fakultät für Gesundheitswissenschaften ernannt.

Sie ruft am Universitätsklinikum Tallaght eine Einheit ins Leben, die auf Diagnostik und Behandlung von Menschen mit Trisomie 21 und Alzheimer spezialisiert ist. Haus­ärz­t*in­nen im ganzen Land überweisen ihre Pa­ti­en­t*in­nen mit Downsyndrom hierher, damit sie von der Dubliner Expertise profitieren.

Ein weiteres Zentrum der Expertise befindet sich 2.000 Kilometer südlich von Dublin in Barcelona, wo der Neurologe Juan Fortea, 45, am Hospital de la Santa Creu i Sant Pau zur Frühdiagnose neurodegenerativer Erkrankungen und dem Zusammenhang zwischen Downsyndrom und Alzheimer forscht.

Mittlerweile ist klar: Die Alzheimer verursachenden Ablagerungen im Gehirn bilden sich bereits Jahrzehnte bevor die Krankheit ausbricht. „Alzheimer ist eine Krankheit der Jungen, die sich im Alter manifestiert“, fasst Fortea zusammen. Darum ist frühes Monitoring so wichtig.

Fortea hat maßgeblich dazu beigetragen, dass es in der Provinz Katalonien mittlerweile standardisierte Gesundheitspläne für Menschen mit Downsyndrom gibt. Je­de*r Betroffene wird dort ab dem Alter von 35 Jahren jährlich untersucht. „Das ist auch deshalb wichtig, weil es gängige Krankheiten gibt, die mit dem Downsyndrom einhergehen“, sagt Fortea. An angeborenen Herzfehlern, Infekten oder Leukämie, früher häufig Todesursachen bei Kindern mit Downsyndrom, stirbt heute kaum noch jemand. Schilddrüsenprobleme, Diabetes mellitus, Schlafapnoe und andere Erkrankungen bleiben aber Risiken, die im Erwachsenenalter mit dem Syndrom einhergehen und ähnliche Symptome wie Demenz hervorrufen können. Sie sind gut behandelbar – bis auf Alzheimer.

Melanie Hoffmann hatte ein prall gefülltes Leben

Es wäre schön, erzählen zu können, ein nie­der­ge­las­se­ner Neu­ro­lo­ge oder eine Haus­ärz­tin hätte Melanie Hoffmann an die Ambulanz in München überwiesen. De facto war es ihr fünf Jahre jüngerer Bruder Philipp. Der Ingenieur wohnt mit seiner Familie eine Straße weiter; seit zwei Jahren beobachtet er die Veränderungen bei seiner Schwester. Irgendwann googelt er „Downsyndrom+Demenz“ und stößt auf die Münchner Ambulanz. So ist das in Deutschland: Die Informationen sind zwar da, aber sie sind nur für die zu finden, die genau wissen, wonach sie suchen.

Im Münchner Untersuchungszimmer hat Melanie Hoffmann die kleine faltige Hand in die ihrer Mutter Birgit* gelegt und schaut zwischen Ärztin und Neuropsychologin hin und her. Die Ärztin fragt: „Was hat sich verändert?“ Melanie Hoffmann guckt zu ihrer Mutter und sucht in deren Gesicht nach der Antwort.

Brigit Hoffmann zählt auf, was alles nicht mehr geht: Alleine anziehen, Brot schneiden, aufs Klo gehen, die Schuhe finden oder das Handy, den Tisch abräumen, Wäsche in den Schrank legen. „Eigentlich ist kaum noch etwas beim Alten“, fasst Dieter Hoffmann zusammen.

Das Alte, das ist bei Melanie Hoffmann ein prall gefülltes Leben: Seit 26 Jahren arbeitet sie in der Kantine einer Werkstatt der Lebenshilfe. Sie malt für ihr Leben gern und sie liebt Schlager. Jeden Tag nach der Arbeit setzt sie sich zu Hause an ihre Staffelei und dreht die Anlage auf. Andrea Berg und Helene Fischer schallen dann durchs Haus, „bis es einem zu den Ohren rauskommt“, sagt ihre Mutter.

Melanie Hoffmann ist eine unternehmungslustige Frau, vor allem mit ihrem Partner macht sie viel: Gemeinsam mit dessen Eltern gehen sie auf Konzerte und in schicke Restaurants, sie knutschen gern und verbringen Tage und auch Nächte miteinander. Das alles erzählt die Mutter im Präsens und sagt dann: „Das war einmal.“ Die Stimme bricht ihr weg, sofort steht Melanie Hoffmann auf und nimmt ihre Mutter tröstend in den Arm.

Sie malte für ihr Leben gern und sie liebte Schlager. Jeden Tag nach der Arbeit setzte sie sich zu Hause an ihre Staffelei und drehte die Anlage auf.

Birgit Hoffmann, Mutter von Downsyndrom-Patientin

Die Veränderung kam wie über Nacht. Im Juli 2022 beginnt Melanie Hoffmann Körper zu zucken. Mal sind es die Arme, mal der Kopf, immer passiert es in den Morgenstunden. Das Zucken kommt plötzlich und ist nach einer Stunde vorbei, „wie ein Spuk“, erinnert sich der Vater. Er geht mit Melanie Hoffmann zum Hausarzt, dann zum Neurologen, von beiden fühlt sich die Familie „komplett alleingelassen“.

Einige Tage später stürzt Melanie zum ersten Mal, im Bad, und fällt mit dem Gesicht aufs Waschbecken, sie schlägt sich zwei Schneidezähne ein. Im Dezember fällt sie zwei weitere Male, sie hat nun Hämatome und Schürfwunden im Gesicht und bewegt sich immer unsicherer. Das Zucken wird stärker, eines Morgens im Januar liegt Melanie im Bett und ist nicht mehr ansprechbar. Der Vater ruft den Notarzt, es folgt ein Krankenhausaufenthalt in der Neurologie.

Das medizinische Personal dort weiß wenig mit ihr anzufangen, Versuche mit Medikamenten zeigen keinen Erfolg. Auch in der Klinik fällt Melanie Hoffmann wiederholt aus dem Bett. „Sie wurde entlassen, und dann ging alles weiter wie gehabt“, erzählt der Vater. Zur Arbeit geht Melanie Hoffmann in dieser Zeit nicht mehr, die Eltern versorgen sie zu Hause. Die Verzweiflung wächst. Bis Bruder Philipp den Kontakt zur Ambulanz in München herstellt. Ende März 2023 wird Melanie Hoffmann dort das erste Mal untersucht.

Verschiedene Spielzeuge im Wohnheim Willowview sollen die Nerven der Pa­ti­en­t*in­nen beruhigen Foto: Kathrin Harms

Das Team an der LMU ist „wahnsinnig hilfreich“, sagt der Vater. Endlich gibt es Erklärungen. Die Zuckungen, die Melanie Hoffmann überfallen, sind sogenannte myoklonische epileptische Anfälle. Bei etwa zwei Dritteln der Betroffenen sind sie die ersten Hinweise auf Alzheimer.

„Wenn Sie so etwas morgens bei Ihren Angehörigen beobachten, und wenn es das erste Mal ist, dann stellen Sie das Frühstück außer Reichweite, rufen den Notarzt und lassen Ihren Angehörigen auf der Neurologie durchchecken“, sagt Evelyn Reilly vom Tallaght Memory Service in Dublin. In Irland gilt, wie in Katalonien, seit einigen Jahren die Maßgabe: Alle Menschen mit Downsyndrom stellen sich im Alter von 35 Jahren für einen Ausgangsbefund vor.

Das empfiehlt auch die Münchner Ambulanz: „Kommen Sie mit ihren Angehörigen dann, wenn sie noch keine Symptome zeigen“, sagt Johannes Levin. Der Sinn des Ganzen: Es braucht einen Referenzwert. Die Diagnose wird erst gestellt, wenn sich, wie bei Melanie Hoffmann, bei einer zweiten Testung zeigt, dass die kognitiven Fähigkeiten nachgelassen haben.

Wie erkennt man, ob jemand dement wird? Bei neurotypischen Menschen fällt es früher oder später im Alltag auf: Betroffene vergessen und verlegen Dinge, sind verwirrt, haben Orientierungsschwierigkeiten, die sich meist zuerst an unbekannten Orten bemerkbar machen. Menschen mit kognitiver Einschränkung kommen jedoch nur selten in solche Situationen.

Selbst speziell auf Tri­so­mie 21 entwickelte Tests sind nur im Verlauf aussagefähig – zu unterschiedlich sind die individuellen Fähigkeiten der Betroffenen. Einige wenige machen Abitur, viele lernen nie schreiben, manche haben lebenslang Probleme, sich durch Sprechen zu verständigen. Gerade bei Letzteren sind es daher „eher Veränderungen im Verhalten, die auffallen“, sagt Levin. „Menschen, die fröhlich und impulsiv waren, ziehen sich vielleicht zurück, werden ängstlich oder auch aggressiv.“ Für Angehörige und nicht geschultes Betreuungspersonal kann das verwirrend sein und unter Umständen auf die falsche Fährte führen.

Eine noch unveröffentlichte Studie aus einer Kollaboration der LMU München mit der Universität Duisburg-Essen hat die Versorgung von Menschen mit Downsyndrom und Alzheimer untersucht. Das vorläufige Ergebnis laut Levin: „Die Demenz bleibt bei den Betroffenen oft unerkannt. Sie erhalten seltener etablierte Antidementiva als die Normalbevölkerung. Dafür werden bei ihnen deutlich häufiger Psychopharmaka verschrieben.“

Keine Leitlinie für Menschen mit Downsyndrom

Warum ist die medizinische Versorgung von Menschen mit Trisomie 21 hierzulande so miserabel? Vielleicht, weil in Deutschland gerade zum ersten Mal eine ganze Generation von Betroffenen alt wird. Das liegt zum einen am medizinischen Fortschritt. Durch die neuen Möglichkeiten der Herzchirurgie ist die Lebenserwartung von Menschen mit Trisomie 21, die vor 100 Jahren noch bei zehn Jahren lag, auf heute rund sechzig gestiegen.

Zum anderen ist da die deutsche Geschichte, die ihren Schatten wirft: Der Nationalsozialismus hat mit der sogenannten Aktion T4 ganze Generationen an Menschen mit Behinderung ausgelöscht. Menschen mit Downsyndrom wurden in Nachkriegsdeutschland zwar geboren, aber noch einige Jahrzehnte lang wurden sie nur selten älter als Mitte dreißig.

In der Gegenwart gibt es noch einen anderen Grund für die schlechte Versorgung. Wenn Menschen mit Downsyndrom krank sind, gehen auch sie erst mal zu Haus­ärz­t*in­nen vor Ort. Für die sind diese Pa­ti­en­t*in­nen in der Regel ein Sonderfall. Sie müssen schon sehr motiviert sein, um sich eingehender mit ihnen zu beschäftigen.

Wenn das Leben der alternden Eltern kleiner wird, dann zwangsläufig auch das der Kinder

Neuropsychologin Elisabeth Wlasich

Eine Leitlinie für die medizinische Versorgung von Menschen mit Trisomie 21 gibt es in Deutschland nicht. „Menschen mit Downsyndrom brauchen vor allem Zeit“, sagt Elisabeth Wlasich. Wie geht das zusammen mit einem durchökonomisierten Gesundheitssystem?

In der Praxis meist gar nicht. Aus diesem Grund wurde im Jahr 2015 ein Gesetz verabschiedet, das vorsieht, für Menschen mit starker Einschränkung sogenannte interdiziplinär arbeitende „ambulante Medizinische Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen“ (MZEB) zu schaffen. Im Prinzip wären sie der geeignete Ort, wo sich Menschen mit Downsyndrom bei Verdacht auf Demenz vorstellen könnten.

Allerdings: Der anvisierte flächendeckende Aufbau von MZEBs geht, so das Deutsche Ärzteblatt im Dezember 2023, „nur sehr schleppend voran“. 57 solcher Zentren arbeiten derzeit bundesweit, mit teilweise sehr begrenzten Kapazitäten. Der ländliche Raum ist schlecht versorgt; im Saarland, wo Familie Hoffmann lebt, gibt es keines.

Wenn Menschen mit Trisomie 21 nahezu zwangsläufig Alzheimer entwickeln, wozu dann überhaupt eine Diagnose? „Um zu wissen, wo im Verlauf die Person steht, und um die Krankheit planbar zu machen“, sagt Alzheimerforscher Johannes Levin.

Die Diagnose ist für die Familie Hoffmann ein bescheidenes Glück im Unglück: Sie ist niederschmetternd, aber auch erleichternd – denn sie gibt Orientierung. Die behandelnde Ärztin empfiehlt Melanie Hoffmann bereits beim ersten Termin in der Ambulanz ein Antiepilektikum. „Das hat sofort geholfen, schon am nächsten Tag hatte sie keine Anfälle mehr“, berichtet der Vater.

Für die Familie macht das einen großen Unterschied: Melanie Hoffmann geht wieder zur Arbeit, die Lebenshilfe passt ihre Tätigkeit in der Kantine an die abnehmenden Fähigkeiten an. In der Einrichtung trifft sie ihren Freund, sie hat dort Freunde und Bekannte. Die Eltern können ein paar Stunden am Tag die Verantwortung abgeben.

Trotzdem bleibt es schwer. Über Ostern erleidet Birgit Hoffmann einen Schlaganfall. Es folgen Krankenhausaufenthalt und Reha, das nimmt die Tochter emotional stark mit. Im Juni 2023 stürzt Melanie erneut, sie handelt sich einen Haarriss im Schienbeinknochen ein, der sie stark und lange einschränkt. Erst mittels eines zweiten Röntgenbildes wird er erkannt, weil Melanie Hoffmanns Klage über Schmerzen von den Ärz­t*in­nen nicht ernst genommen wurde. Die Folge: Sie arbeitet seitdem nur noch vier Stunden am Tag. Seit diesem Sturz traut sie sich nicht mehr in den Bus, der sie jahrelang zur Arbeit abgeholt hat.

Die Abwärtsspirale kommt damit weiter in Gang, denn: „Erhalten, was an Fähigkeiten da ist, ist das A und O“, sagt Neuropsychologin Wlasich. Dieter Hoffmann verbringt nun viel Zeit im Auto: Er fährt seine Tochter in die Werkstatt und zurück, außerdem zu diversen Physio- und Ergotherapieterminen.

Bruder Philipp beobachtet das Ganze mit Sorge. Er verbringt jeden Donnerstagnachmittag mit seiner Schwester, wenn die Eltern nach Saarbrücken zu einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Menschen mit Demenz fahren. „Ich liebe meine Schwester. Aber schon ein einziger Nachmittag mit ihr ist irre anstrengend. Ich frage mich, wie das alles weitergehen soll. Meine Eltern können nicht mehr.“

Wie viele Menschen mit geistiger Behinderung lebt Melanie Hoffmann bei ihren Eltern. Eltern und Kinder werden oft gemeinsam alt, beobachtet Neuropsychologin Wlasich. „Wenn das Leben der alternden Eltern kleiner wird, dann zwangsläufig auch das der Kinder.“ Sie ermutige die Familien dazu, sich Einrichtungen anzuschauen, denn: „Wenn die Demenz mal da ist, ist eine Umgewöhnung schwierig.“

Für Melanie Hoffmann und ihre Familie ist dieser Zug abgefahren. Die Familie erhält 300 Euro Pflegegeld, darüber hinaus haben die Eltern keinerlei Unterstützung bei der Pflege, die sie mittlerweile rund um die Uhr beansprucht. Hätten sie darauf nicht Anspruch? Dieter Hoffmann fehlt es an Zeit und Energie, sich auch darum noch zu kümmern.

1.500 Kilometer weiter westlich, in Dublin: Betroffene Familien haben hier die Möglichkeit, sich auch mal auszuruhen. Das preisgekrönte Haus Willowview des Avista St Josephs Centre im Westen der Stadt wurde in Zusammenarbeit mit dem Trinity College konzipiert. Mary Mc Carron hat auch hier maßgeblich mitgewirkt und ihre Vision in die Tat umgesetzt: Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz sollen optimal versorgt werden. Die Einrichtung bietet Platz für zwölf Menschen. Das ist erst einmal nicht viel, aber das Haus wirkt als Leuchtturmprojekt, Nachahmer gibt es bereits, Fachleute aus aller Welt schauen sich hier um. Anfragen aus Deutschland gab es bislang nicht.

Das Wohnheim Willowviewist so gebaut, dass seine Be­woh­ne­r*in­nen ihren Bewegungsdrang ausleben können, ohne sich zu verlaufen Foto: Kathrin Harms

Willowview hält auch zwei „Pausenbetten“ vor. Sie können für ein paar Tage von Demenzkranken belegt werden, deren Angehörige dringend eine Pause brauchen. „Die Nachfrage ist groß“, sagt Eilish Madden, Pflegedienstleiterin des Hauses. Willowview will sowohl die Be­woh­ne­r*in­nen als auch die Pflegenden optimal unterstützen, das zeigt sich schon in der Architektur.

Das Haus ist kreisförmig aufgebaut, Menschen mit Demenz können so ihren Bewegungsdrang ausleben, ohne verloren zu gehen. In Willowview gibt es allerorten Sitzgelegenheiten für die Momente, in denen die Kraft plötzlich nachlässt. Die Ecken sind gerundet, um Verletzungen zu vermeiden, der Boden ist von durchgängiger Farbe. „Das ist wichtig, weil sich in der Demenz oft die Tiefenwahrnehmung verändert“, sagt Madden. „Schon eine dunkle Fuge im Boden oder ein Farbwechsel kann dann die Angst auslösen, in einen Abgrund zu fallen.“

In Willowview ist jedes Zimmer liebevoll eingerichtet, das eigene Bad eine Selbstverständlichkeit. Ein digitales Fotoalbum ermöglicht es dem speziell geschulten Personal, sich der Person mit ihrer individuellen Vergangenheit zuzuwenden – auch wenn die Sprache nicht mehr da ist und vielleicht auch Erinnerungen fehlen. „Wir nehmen Bezug auf alles, was das Leben unserer Be­woh­ne­r*in­nen reich und schön gemacht hat“, so die Pflegedienstleiterin. Aus dem Wohnzimmer tönt ABBA, es wird getanzt – zwei Tage zuvor waren drei Bewohnerinnen auf einem Konzert, der Eindruck ist noch frisch und die Freude groß.

Wie unterscheiden sich Menschen mit und ohne geistige Behinderung in puncto Demenz? „Schmerzen sind ein großes Thema“, sagt Madden, „das wird oft übersehen, wenn Menschen nicht verbal kommunizieren.“ Deshalb verfügt in Willowview jedes Zimmer über eine sogenannte Schmerztafel. Auch ohne Sprache lässt sich damit zeigen, ob und wo etwas wehtut, und wie stark.

Im Wohnheim in Dublin ist Platz für zwölf Menschen mit Downsyndrom und Demenz, Fachleute aus aller Welt reisen an Foto: Kathrin Harms

Dass Menschen mit geistiger Behinderung dement und pflegebedürftig werden und dann anders betreut und versorgt werden müssen, ist eigentlich keine Überraschung. Flächendeckend und systematisch vorgedacht, geplant und im Zweifel auch passend gebaut wurde allerdings in vielen Fällen nicht. Die Lebenshilfe, der größte Träger bundesweit, unterstützt etwa 170.000 Menschen mit geistiger Behinderung und betreibt knapp 1.500 Wohnstätten und ambulant betreute Wohnungen sowie über 700 Werkstätten.

Wie viele der dort lebenden und arbeitenden Menschen das Downsyndrom haben und wie alt sie sind, das kann niemand sagen. Die unabhängig agierenden Ortsverbände tauschen keine Zahlen aus. Das hat zur Folge, dass jeder einzelne Fall, wie der von Melanie Hoffmann, als Überraschung daherkommt. So hat Wolf-Dietrich Trenner vom Arbeitskreis Downsyndrom Deutschland e. V., einer Eltern-Selbsthilfe-Vereinigung, regelmäßig verzweifelte Eltern am Telefon, die „wie vom Blitz getroffen“ sind, weil sie nie auf die ihren Kindern drohende Krankheit vorbereitet wurden.

Was tun, wenn den Eltern oder auch dem Personal im Wohnheim die Pflege über den Kopf wächst? Die wenigsten Einrichtungen sind auf pflegebedürftige Menschen mit Behinderung eingestellt. Klassische Pflegeheime hingegen sehen sich durch Menschen mit Behinderung überfordert. „Man denkt, die sind untergebracht, wir können jetzt in Ruhe alt werden. Und dann kommt die Demenz, und die Einrichtung sagt: Das können wir nicht leisten“, sagt Trenner.

Die Anzahl der Menschen, die weltweit jährlich an Demenz erkranken, wird immer größer, die WHO hat daher einen Globalen Handlungsplan verabschiedet. Seit 2020 hat auch Deutschland eine Nationale Demenzstrategie, ein 133 Seiten langes Dokument, das formuliert, wie Menschen mit Demenz in der „Mitte der Gesellschaft“ bleiben und „mit ihren Bedürfnissen und Bedarfen wahrgenommen“ werden sollen. Menschen mit Trisomie 21 werden darin genau einmal erwähnt, es wirkt wie nachträglich hineingeschrieben. Eine 50.000 Menschen große Gruppe, die laut genetischem Bauplan fast zwangsläufig Alzheimer entwickelt, taucht in dieser Strategie also so gut wie nicht auf.

In Irland hat Mary Mc Carron dafür gesorgt, dass Menschen mit Downsyndrom in der irischen Demenzstrategie mit ihren besonderen Bedürfnissen berücksichtigt werden. Wie sie das gemacht hat? „Wir hatten die Daten“, sagt sie. Mc Carron hat sie mit ihrem Team selbst erhoben. Denn: „Verlässliche Daten sind das Fundament jeder guten Strategie.“

Daten zu Downsyndrom? Nicht in Deutschland. Eine Anfrage beim Statistischen Bundesamt endet in stundenlangem Kopfzerbrechen. Der Schätzwert von 50.000 ergibt sich aus Zahlen der Eingliederungshilfe, aus Geburten- und Abtreibungsstatistiken. Niemand weiß, wie viele Menschen mit Trisomie 21 in Deutschland leben, niemand weiß, wie alt sie sind und wo sie leben. Diese Daten werden nicht erhoben – aus historischen Gründen. Das mag gut gemeint sein, und doch führt es, fast 80 Jahre nach Kriegsende, zu erheblicher Benachteiligung. Es führt dazu, dass niemand weiß, wo es wieviel Versorgungsbedarf gibt.

Früher oder später wird es auch in Europa Medikamente gegen Alzheimer geben. Johannes Levin geht davon aus, dass „Alzheimer irgendwann eine chronische Krankheit sein wird, mit der es sich unter guter ärztlicher Betreuung lange und gut leben lässt, so wie heute schon mit Bluthochdruck oder auch mit einer HIV-Infektion.“

Melanie Hoffmann wird davon nicht mehr profitieren. Ihre Familie und sie werden zurechtkommen müssen, wie so viele andere auch. Und doch: „Es gibt Hoffnung“, sagt Juan Fortea aus Barcelona, er meint damit die neue Generation der Alzheimermedikamente. „Die Menschen mit Downsyndrom, die heute Kinder sind, werden wir schon ganz anders behandeln können.“*Name von der Redaktion geändert

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • Danke für den Artikel. Ich habe viel dazugelernt.

  • Es ist richtig, Deutschland erhebt aus, falsch verstandener Geschichte, keine Daten, die zur Erforschung von Krankheiten dienen könnten. Ohne Forschung, keine Therapie, bis sie im Ausland entwickelt wurde und dann, vielleicht hier zugelassen.

    Dass Einrichtungen in Dublin und Barcelona vorhanden sind, liegt aber nicht in einem besseren Verständnis, oder mehr Führsorge.



    Es ist Demographie.



    Zwei Millionen der fünf Millionen Iren leben in und um Dublin, mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt in der Umgebung von Barcelona.

    Bis auf wenige Ausnahmen verteilt sich die Bevölkerung in Deutschland auf die Fläche.



    Das betrifft auch Menschen mit Behinderungen, die bei und in der Nähe ihrer Familien leben, daher kann es nicht die zentrale Behandlungseinrichtung geben.

    Was es dennoch gibt, sind Einrichtungen für Kurzzeitpflege, auch und gerade für Menschen mit geistiger Behinderung, auch für sehr schwere Fälle.