Als Paketbotin durchs Welltall: Jeder Tag ist wispernder All-Tag
In seinem Film „The Whispering Star“ folgt Regisseur Sion Sono einer Paketbotin von Planet zu Planet durch eine postkatastrophische Welt.
Sion Sono ist einer der Berserker des japanischen Kinos. Das betrifft die Menge des Outputs, aber auch die Form seines Werks. Mag sein, dass er neben Takashi Miike, der gerade seinen hundertsten Film dreht, mit knapp fünfzig Werken als Faulpelz erscheint, allerdings hat er mit sechs Filmen im vergangenen Jahr das Tempo noch einmal deutlich erhöht.
Zudem schreibt er auch noch Romane, die sich oft mit den Filmprojekten verschränken. Zu einer großen Soloausstellung in Japan hat er ein Buch mit nicht weniger als 550 Seiten voller Storyboards seiner Filme produziert.
Zwar dreht Sion Sono seit mehr als dreißig Jahren seine Filme, auf der Berlinale war gerade in einer Retro das Frühwerk „I Am Sion Sono!!“ von 1984 zu sehen. Auf Festivals und im Westen hat der Regisseur aber erst in den letzten Jahren so richtig Aufsehen erregt, mit furiosen und aus allen Nähten berstenden Werken: etwa mit der multiplen und Sex, Schwanzabschneiden und Katholizismus völlig unberechenbar verbindenden Liebesgeschichte „Love Exposure“ oder dem krachbunten Mafia-Musical „Tokyo Tribe“, dessen Energie alle Einwände einfach wegbläst.
Einwände, die da lauten könnten: Nichts zu Ende gedacht, wilde Drauflosfilmerei, Undiszipliniertheit, das Unperfekte als Methode, eindrücklich verkörpert etwa in den schiefen Raps, die in „Tokyo Tribe“ alle Dialoge in schräge Sprachmusik übersetzen.
Und nun kommt aus heiterem Himmel „The Whispering Star“, ein Film, der mit dem hysterischen Sion Sono, den man kennt, wenig zu tun hat. Hier wird nicht gerappt, getobt, gesungen, sondern tatsächlich, wie der Titel verspricht: ohne Ende geflüstert.
„The Whispering Star“, Regie: Sion Sono, mit Megumi Kagurazaka, Kenji Endo u. a., Japan 2015, 102 Min.
Außerdem ist alles, mit der prägnanten Ausnahme eines kurzen, mit klassischer Musik unterlegten Moments, in Schwarz-Weiß. Zudem ist der Stern des Titels ganz wörtlich zu nehmen: Es handelt sich um Science-Fiction, kein Genre, mit dem man diesen Regisseur bisher in Verbindung gebracht hat.
ID 722 Yoko Suzuki, batteriebetrieben
Sterneneinsam zieht ein Raumschiff durchs All und durch die Zukunft, mit einer Frau darin, die kein Mensch ist, sondern eine batteriebetriebene Androidin namens ID 722 Yoko Suzuki. Als Paketbotin transportiert sie Dinge der Menschen durchs All auf Planeten, die alle sehr erdähnlich sind. Das Raumschiff freilich ist eigentlich eine kleine Wohnung, so eine Art raketenbetriebenes Railroad-Apartment, mit Küche und Kleiderschrank und Motten im Licht.
„The Whispering Star“ ist vor allem eines: langsam, sehr langsam, Bilder in Trance zeigen ein ritualisiertes Leben nahe am Stillstand an Bord des Wohnküchenschiffs, über das die Tage in rasender Eile dahinziehen, nur dass die Zeit dabei das Geschehen, das Tun und das Denken, auch die Wahrnehmung des Zuschauers niemals kerbt.
Montag Teekochen
Montag, Dienstag, Mittwoch und so weiter, immerzu sagen Zeittafeln die Wochentage an, manchmal in Sekundenabständen, aber auf dem Paketschiff ist jeder Tag wispernder All-Tag. Yoko Suzuki kocht Tee, Montag, sie räumt Sachen aus dem Schrank, Dienstag, sie dreht den Wasserhahn auf, Mittwoch, sie tauscht die Batterien aus, Donnerstag.
Und dann, gelegentlich, legt sie auf einem Planeten an. Sie nimmt eine der weißen unverschlossenen Pappschachteln, überbringt sie Jahre nach dem Versand der Empfängerin oder dem Empfänger, lässt den Paketschein unterschreiben oder stempeln, spricht ein paar Worte oder auch nicht, einmal fährt sie auch Fahrrad, immer kehrt sie an Bord ihres Raumschiffs zurück, hebt ab, fliegt weiter. In Schwarz-Weiß, langsam, ohne eine Miene zu verziehen. Eine der Paket-Empfängerinnen, eine sehr alte Frau, betreibt am Meer einen verlassenen Zigaretten-Verkaufsstand. Suzuki kauft eine Packung, auch Androiden träumen von nichtelektrischen Zigaretten.
Auf den Planeten leben nur noch wenige Menschen, achtzig Prozent der Bewohner des Universums, sagt eine Einblendung, sind Androiden. Die Landschaft ist wüst, Zeugnisse menschlichen Lebens sind verstreute Relikte, die Androidin und die Kamera bewegen sich durch eine hingeträumt verlassene postkatastrophische Welt.
Man sieht Städte, in deren Läden nichts mehr passiert, auf deren Straßen höchstens ein alter Mann noch unterwegs ist, eine Blechdose am Fuß, deren Geräusch bei jedem Schritt die Stille durchbricht. Die Menschen sind furchtbar lärmempfindlich geworden. Alles, was über dreißig Dezibel geht, droht sie zu töten. Vor der Stadt einsam brandendes Meer, die Natur erobert sich ihren Platz in von Menschen geschaffenen Städten und Straßen zurück.
Der Drehort war Fukushima
Sono hat diese Szenen allesamt in Fukushima gedreht, und von dieser Tatsache her gewinnt „The Whispering Star“ seine allegorische Lesbarkeit: Das ganze Science-Fiction-Szenario erscheint als ausgeglühtes Nachbild und ersterbender Nachklang der Tsunami- und Reaktorkatastrophe, deren sehr reale Folgen Siono Sono in die irreale Ambient-Schönheit seines ganz eigenen Weltraums sanft überführt.
Von einem Fehler, den die Menschheit gemacht hat, ist ganz am Anfang von „The Whispering Star“ zu lesen: Hier sind die Bilder, hier ist der Ort, hier ist der tödliche Frieden, hier sind die Dinge in Schachteln, mit denen Menschen einander daran erinnern, was menschliche Erinnerungen sind.
Wir bekommen, weil die Androidin Suzuki neugierig ist, die Dinge in den Schachteln zu sehen: ein toter Schmetterling, ein Filmstreifen, Reste, Überreste; alles ganz analog, wie überhaupt angesichts der in der Zukunftswelt real existierenden Teleportation das Postschiff (und sicher auch der Film insgesamt) ein etwas nostalgisches Gefährt ist. Das dann, auf allerdings ganz unaufdringliche Weise, um sich selbst und seine eigene Geschichte zu kreisen beginnt. So entdeckt Suzuki ein altes Tonbandgerät (auch sehr analog), auf dem sie sich ihre eigenen Aufzeichnungen aus früheren Jahren der Reise abzuspielen beginnt.
Altmodische Glühlampen
Aber auch die mit flüsternder Frauenstimme sprechende Kommandozentrale des Schiffs hat mit handelsüblichen und filmhistorisch vertrauten Technikfantasien der Science-Fiction wenig zu tun: Sie sieht wie ein altertümliches Röhrenradio aus, sie signalisiert nicht mit LED-Blinken, sondern mit Glühlampen-Flackern.
Ein bisschen ein Wunder ist es, dass die Navigation funktioniert und das Schiff überhaupt periodisch die Fukushima-Planeten sowie die Paketempfänger erreicht. Denn der sanfte Bordcomputer ist ein wenig verpeilt, oder jedenfalls in den Anblick der weißen Deckenleuchte verliebt, in deren Innerem gefangene Falter leise flatternde und flackernde Schwarz-Weiß-Kontraste erzeugen. Der Computer verwechselt das mit dem Sternenhimmel. Trotzdem kommt alles an.
Mit Realismus hatte Sion Sono noch nie was am Hut. Darin bleibt er sich treu, nur dass er alles, was in seinen Filmen sonst überbordet und aus den Fugen geht, diesmal in Understatement und Ruhe und Flüstern zurücknimmt. Statt Überfülle nun Leere. Aber diese Leere hat eine Schönheit eigener Art. Am eindrücklichsten in der finalen Sequenz. Ein Scherenschnittkorridor vor milchigen Wänden. Wir blicken auf die Menschen dahinter wie der Bordcomputer auf die Falter im Licht. Ein Blick, der auf Distanz bleiben muss. Es ist dieser posthumane Blick, den „The Whispering Star“ schmerzlich schön inszeniert.
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