Als Neudeutscher unter Vertriebenen: Die verlorene Heimat
Gehört der Bund der Vertriebenen zur Bundesrepublik wie die Bratwurst? Unser Autor ist Neudeutscher - und begleitete die Wiederwahl Erika Steinbachs.
BERLIN taz | Auf ihrer Internetseite verrät Erika Steinbach, was sie gern machen würde, wozu sie aber keine Zeit hat: "In blühenden Wiesen sitzen und die Natur malen". Frau Steinbach ist seit zwölf Jahren Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV). Heute, an diesem Tag Ende Oktober, will sie sich für dieses Amt erneut wählen lassen. Für die nächsten zwei Jahre.
Wie die Wahl ausgehen wird, wird mir schon nach einigen Minuten klar. Gleich, nachdem ich den Hörsaal in der katholischen Akademie in Berlin betrete, in dem die Bundesversammlung des BdV abgehalten wird. Gleich, als ich auf der für die Presse vorgesehenen Tribüne Platz nehme.
Frau Steinbach steht am Rednerpult und im Saal wird laut geklatscht. Die ersten Sätze ihrer Rede habe ich verpasst. Sie hatte die Anwesenden mit den Worten "liebe Schicksalsgefährten" begrüßt, so lese ich das später in ihrer vorgedruckten Rede. Frau Steinbach, mit schwarzem Rollkragenpulli, Perlenkette, blauem Blazer, schaut unbeirrt ins Publikum. Ihre blondierten Haare sind, wie ich sie aus dem Fernsehen kenne, regungslos. Sie scheint die Klatschpause zu genießen.
Wer die heutigen Probleme von Integrationsunwilligen aus anderen Kulturkreisen mit den deutschen Vertriebenen und Spätaussiedlern in einem Atemzug nenne, sagt Steinbach, der bedürfe dringend Nachhilfe. Und: "Die Aussiedler sind ein Gewinn für unser Land."
Dieser Text und viele andere mehr erscheinen in der sonntaz vom 6./7. November 2010. Ab sofort mit noch mehr Seiten, mehr Reportagen, Interviews und neuen Formaten. Die sonntaz kommt jetzt auch zu Ihnen nach Hause: //www.taz.de/zeitung/abo/wochenendabo_mailing/:per Wochenendabo. ------------------
Khalid El Kaoutit ist Neudeutscher. Er lebt seit April 2001 in Deutschland. Er ist überzeugter Bonner und seit Neuestem auch noch Berliner. Er arbeitet als freier Journalist und schreibt für die sonntaz über seine Heimat.
Der Wunsch: taz-Leserin Gudrun Pofahl mailte uns: "In letzter Zeit war wieder einiges zu lesen zu den Vertriebenen. Ich frage mich, warum es für die ,vor einer Ewigkeit' vertriebenen deutschen Menschen scheinbar nur diese gestrigen, rechten, konservativen Vertretungen zu geben scheint. Was ist mit den anderen, die von der Anzahl her die konservativen Vertriebenen-Funktionäre weit übertreffen dürften? Und warum wird diesen Verbänden HEUTE, wo die wirklich Vertriebenen langsam aussterben, immer noch eine solch wichtige Rolle zugeschrieben?"
Der Weg: Was sollten wir für Sie herausfinden? Bitte melden Sie sich unter open@taz.de oder postalisch: die tageszeitung, Sebastian Heiser, Rudi-Dutschke-Straße 23, 10969 Berlin.
Mit "anderen Kulturkreisen" meint sie diejenigen, die wegen "Arbeit und Wohlstand freiwillig" nach Deutschland gekommen seien und keine oder zu geringe Bereitschaft zeigten, diesem Land, Deutschland, den nötigen Respekt entgegenzubringen, ja nicht einmal die deutsche Sprache zu erlernen. Wieder wird im Saal geklatscht.
Neben mir sitzt ein Paar, das auf das Klatschen verzichtet. Stattdessen streichelt der Mann die Hände seiner Frau. Das macht die beiden sympathisch, ich grüße sie mit einem Lächeln. Sie sind beide im Rentenalter. Er trägt eine Brille, die Haare kurz und nach hinten gekämmt, eine braune Stoffhose und einen karierten Pullover über seinem weißen Hemd.
Sie schweigt und schaut desinteressiert in dem großen Saal herum. "Auch die Spätaussiedler sind freiwillig nach Deutschland gekommen", sagt mein Nachbar, nachdem er mich gefragt hat, für welche Zeitung ich arbeite. "Bestimmt auch wegen Arbeit und Wohlstand."
Erika, die selbsternannte "Schicksalsgefährtin"
Der Mann ist 1939 in Ostpreußen geboren. Dort kam seine Familie her. Im Gegensatz zu den meisten Anwesenden sei er tatsächlich ein Vertriebener, erzählt er. 1944 flüchtete seine Mutter mit ihm und seinem Bruder nach Eschwege in Hessen.
Während das Schicksal der selbsternannten "Schicksalsgefährtin" Erika Steinbach ganz anders aussieht, wie mich mein Sitznachbar aufklärt: Ihr Vater kam aus Hanau, ihre Mutter aus Bremen. Während des Krieges war der Vater bei Danzig stationiert, die Mutter kam 1943 nach. Steinbach wurde 1944 geboren. Ein Jahr später "flüchtete" die Familie. Über Berlin nach Hanau.
Zur Erinnerung: Danzig war zwischen 1919 und 1939 eine freie Stadt im sogenannten polnischen Korridor, der später von den Nazis überfallen wurde.
"Dabei wurden sie nicht wegen Schuld oder Unschuld ausgewählt, sondern nur, weil sie Deutsche waren", höre ich inzwischen Frau Steinbach rufen. Es geht um die deutschen Zwangsarbeiter. Mit dem Thema bin ich ein wenig vertraut, dank Herta Müller und ihrer "Atemschaukel".
Frau Steinbach fordert von der Bundesregierung eine Zahlungsentschädigung für die deutschen Zwangsarbeiter. Ich versuche, meinem Freund Peter eine SMS zu schreiben. Er war mein Gast heute Nacht, ich will ihn kurz fragen, ob er bei mir gut geschlafen hat. Vergebens. "Nur Notrufe" steht auf dem Display meines Handys.
Die Bundesregierung sei in der Pflicht und nicht die Länder, die Deutsche nach dem Krieg verschleppt hätten, weil alle bisherigen deutschen Regierungen es nicht für nötig gehalten hätten, mit diesen Ländern über Entschädigungen zu verhandeln, sagt Frau Steinbach. Wegen des hohen Lebensalters der Betroffenen sei höchste Eile geboten. Ich schaue aus dem Fenster und stelle fest, dass nur eine Wand den Saal von einem Friedhof trennt. Ich frage mich, ob es darin irgendeinen Sinn gibt. Applaus unterbricht meinen Gedanken.
Keinen Sinn sehe er in einem Bundesverband der Vertriebenen, erzählt mir der Nachbar. Die Landsmannschaften seien vollkommen ausreichend, weil sich dort die aus den jeweiligen Regionen stammenden Menschen treffen und austauschen können. "Einen Bundesverband brauchen wir nicht, weil wir keine Forderungen auf Bundesebene stellen wollen." Auch weil fast alle, "die da unten sitzen, nach dem Krieg geboren und somit keine Vertriebenen sind".
Seit 2002 ist er aktives Mitglied in seiner Landsmannschaft. Zunächst als Archivleiter, dann als Schatzmeister und jetzt als Kreisvertreter des Kreises in Ostpreußen, aus dem seine Familie stammt. 2002, als er angefangen hatte, da stand er kurz vor der Rente, erzählt er mir. Seine Tochter hielt sein Engagement für keine gute Idee.
"Lass den Quatsch, Papa", sagte sie ihm. Ich frage ihn, warum er trotzdem aktiv geworden sei. "Wenn ich das hier nicht machen würde, dann würde ich Tennis spielen", antwortet er und lacht. So, wie Erika Steinbach Wiesen malen würde.
Wie im Theater: Aufstehen, Platz nehmen, Applaus
Buhrufe aus dem Saal unterbrechen unsere Unterhaltung. Die Namen von Claudia Roth und Renate Künast lösen Unruhe im Saal aus. Die beiden grünen Politikerinnen haben im letzten Sommer zwei Mitglieder des vom Bundestag gewählten Stiftungsrats der geplanten Vertriebenen-Gedenkstätte in Berlin kritisiert, die gleichzeitig Mitglieder des BdV sind.
Die Buhrufe sind zart, was wohl mit dem Durchschnittsalter der Anwesenden zu tun hat. Mein Handy zeigt immer noch keinen Netzempfang. Die katholische Akademie, in der auch die deutsche Bischofskonferenz beheimatet ist, scheint ein Funkloch zu sein.
Drei große Ziele hat sich Frau Steinbach in den Kopf gesetzt. Erstens: die Errichtung des Zentrums für Vertreibung in Berlin. Zweitens: die Durchsetzung eines Bundes-Gedenktages für die Vertriebenen und, drittens: die Forderung nach Zahlungsentschädigungen für deutsche Zwangsarbeiter.
In diesen Zielen sieht mein Nachbar keinen Sinn: "Erstens: Diese Inhalte gehören nicht in ein Zentrum. Die gehören ins historische Museum. Zweitens: Gedenktag? Wir haben genug gedacht. Und drittens: Warum sollen junge Menschen wie Sie, die arbeiten und Steuern zahlen, eine solche Last tragen?"
Inzwischen ist Frau Steinbach mit ihrer Rede fertig. Sie verbeugt sich mehrmals vor ihrem Publikum, das nicht aufhört, zu applaudieren. Es ist wie im Theater. Erika Steinbach nimmt wieder Platz. Dann wird sie aufgefordert, wieder aufzustehen und sich noch einmal vor dem klatschenden Publikum zu beugen.
Endlich habe ich Empfang und ich kann die Nachricht schicken und meine Mails checken, während weitere Delegierte ihre Reden halten, die sehr viel Lob für Frau Steinbach enthalten.
Halb zuhörend bemerke ich, wie gut die kleinen Lautsprecher sind. Vermutlich die Marke "Bose". Ich kann sogar raushören, welcher der Redner eine Zahnprothese trägt. Aus meiner Zeit als studentische Hilfskraft in der Altenpflege weiß ich genau, wie s, z und ß mit und ohne Prothese klingen.
Die nächste Rednerin ist eine Landesvertreterin aus Sachsen-Anhalt - zu meiner Überraschung eine Vertretung aus dem Osten der Republik. Bisher hatte ich gedacht, Vertriebensein sei ein westdeutsches Phänomen.
"Wir werden alt", mahnt die Rednerin. So, als hätte sie damit etwas ganz Neues entdeckt. Dann macht sie eine kleine Pause und beobachtet die Wirkung ihrer Worte auf den Gesichtern ihrer Zuhörer. "Aber unsere Aufgaben und Verpflichtungen halten uns jung", fügt sie hinzu.
Ich nutze die Gelegenheit, online zu sein, und beantworte meine Mails. Mein Nachbar hält die Hand seiner Frau, während ein weiterer Redner Ronald Reagan, "den großen Freund der Deutschen", zitiert.
Nach ihrer nicht überraschenden Wiederwahl steht Erika Steinbach den Journalisten zwischen Schnittchen, Kuchenstücken und Süppchen Rede und Antwort. Frau Steinbach ist überraschend groß. Sie betrachtet den Journalisten von oben herab und ich muss wieder feststellen, wie oberflächlich Fernsehen ist. Dort sind Peter Sodann und Erika Steinbach gleich groß.
Geduldig beantwortet sie die Fragen der Journalisten. Eine nach der anderen. Wenn also Erika Steinbach, die aus der evangelischen Kirche ausgetreten ist, weil sie nichts von der Segnung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften hält, die Erika Steinbach, die auf ihrer Internetseite die "muslimischen Gruppierungen" auffordert, "Respekt vor diesem Lande, seiner Kultur und seinen Menschen aufzubringen", keine blühenden Wiesen malt, dann ist sie Präsidentin des Bund der Vertriebenen! Ich nehme mir noch ein Süppchen.
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