Alltagsforscher übers Abendbrot: „Der ganze Tag kommt auf den Tisch“
Das Abendbrot kennt keine Hierarchien. Es ist die demokratische Mahlzeit schlechthin, finden zwei Alltagsforscher.
taz: Frau Günther, Herr Wagner, wie wird man Abendbrotforscher?
Ingke Günther: Das liegt eigentlich auf der Hand, wenn man sich mit Alltagskultur und Kochen beschäftigt wie wir. Aber begonnen haben wir, als wir 2009 nach Gravenhorst zu einem Projekt eingeladen wurden, das sich mit partizipativer Kunst beschäftigte.
Und welche Forschung stellen Sie an?
Jörg Wagner: Wir begreifen das als Feldforschung: Das heißt, wir gehen vor Ort und treffen Menschen, die Abendbrotkultur pflegen oder auch nur Erinnerungen daran haben. Es geht darum, ins Gespräch zu kommen. Wir laden ein oder werden eingeladen, am privaten Abendbrottisch Platz zu nehmen.
Nehmen Sie den Begriff dabei wörtlich? Abendbrot sagt man ja nicht überall in Deutschland.
Ingke Günther: Manchmal heißt es Nachtmahl, in der Schweiz auch „Café Complet“. Gemeint ist aber damit das Bild des traditionellen Abendbrots. Also die kalte Mahlzeit, die mit Brot verbunden ist. Doch wenn der Gastgeber warm isst, dann ist das für uns auch Abendbrot. Es ist einfach ein Bild, um ins Gespräch zu kommen, über das Leben in seiner Verfasstheit, Fragen nach: Wie arbeitet man? Wie isst man? Wie sieht das Essen zwischen Arbeit und Freizeit aus? Das hat sich natürlich geändert. Um diese Änderungen geht es uns.
Jörg Wagner: Was gemeint ist, wird im Übrigen überall verstanden, auch wenn die Mahlzeit anders benannt wird.
Auch wenn das Abendbrot gar nicht mehr so alltäglich ist?
Ingke Günther, 47, und Jörg Wagner, 46, lehren gemeinsam als Gastprofessoren Kunst an der Universität Gießen. Sie haben in der Stadt auch das Gießkannenmuseum gegründet
Ingke Günther: Es geht um Erinnerungen. Die hat eigentlich jeder. Und wir stellen fest, dass Essensrituale in bestimmten Lebenssituationen auftauchen, aber auch wieder verschwinden können. Studierende etwa setzen sich selten zu einer bestimmten Zeit an den Tisch, aber wenn Kinder da sind, kann sich das wieder ändern.
Was ist denn das Besondere am Abendbrot?
Jörg Wagner: Es ist eine Scharniermahlzeit zwischen Arbeitsalltag und Freizeit. Man trifft sich, und das Ende ist offen. Beim Frühstück ist man immer auf dem Sprung, mittags meist unterwegs. Im Verhältnis dazu hat das Abendessen eine spezielle Qualität, die es für unsere Arbeit interessant macht.
Ingke Günther: Das Abendbrot ist die demokratische Mahlzeit schlechthin. Weil nicht einer in die Küche verbannt wird und kochen muss. Sondern die Zutaten stehen auf dem Tisch, und jeder bereitet sich sein Essen selbst zu. Für uns ist das auch als Künstler spannend. Denn es entstehen beim Abendbrot unterschiedliche Collagen. Und weil oft zum Beispiel auch Reste mit auf den Tisch kommen, ist das viel kreativer als man denkt.
Jörg Wagner: Man hat eine große Gestaltungshoheit über seinen Teller. Es ist keine Essenszubereitung, die von Kompetenz bestimmt ist. Jeder baut sich zusammen, was er mag. Da kommen auch Kinder zum Zug. Und weil es keine bestimmte Menüfolge gibt, isst man recht entspannt so vor sich hin. Das ist eine ziemliche gute Voraussetzung, damit der ganze Tag auf den Tisch kommt. Und hier wird es für uns als Alltagsforscher interessant.
Wie ist denn diese Art der Mahlzeit entstanden?
Jörg Wagner: Natürlich ist da die brotbasierte Kultur in Deutschland wichtig. Das ist anders als in Frankreich oder Italien, wo man schon lange abends warm isst. Sicher hängt die Entstehung mit Arbeits- und Lebensbedingungen zusammen, die sich inzwischen auch wieder ändern. In Deutschland wurde lange mittags in der Kantine gegessen, abends reichte kalte Küche. Aber warum das so ist, und warum es die Unterschiede zu anderen Ländern gibt? Bisher ist uns dazu keine soziologische Forschung begegnet. Wir können da als künstlerische Forscher nur Vermutungen anstellen.
Was ist am Ende das Ziel? Sie haben von partizipativer Kunst gesprochen. Aber handelt es sich auch um partizipative Forschung?
Ingke Günther: Das kann man so sagen. Es braucht manchmal nur kleine Störungen, um über den eigenen Alltag nachzudenken. Sie entstehen, wenn wir uns mit an den Tisch setzen. Und dann kommt das Gespräch auf bestimmte Teller, bestimmte Geschmäcker oder die Wurstsorten. Und natürlich dokumentieren wir am Ende auch, wenn uns bestimmte Zitate signifikant erscheinen.
Jörg Wagner: Wir führen inzwischen auch Abendbrotkongresse durch. Da kommen Menschen zusammen, die sich sonst kaum begegnen würden. Und die über das Thema eine gemeinsame Gesprächsbasis finden. Das ist für beide Seiten sehr spannend und führt auch zu gemeinsamen Erkenntnissen über Alltagsrituale.
Tag des deutschen Butterbrotes
Gibt es ein Beispiel?
Jörg Wagner: Nehmen wir das Endstück. Es ist das Teil, dass man unbedingt haben will, wenn das Brot frisch ist, aber niemand, wenn das Brot alt ist. Wir können diese Beobachtung objektivieren.
Dann können Sie auch sagen, ob das Abendbrot noch lebendig ist. Für mich persönlich ist es eher die Ausnahme als die Regel.
Ingke Günther: Es hat seine dominante Rolle verloren. Das Abendbrot ist eine Mahlzeit von vielen geworden. Das liegt ganz einfach daran, dass die Arbeits- und Lebenswirklichkeiten sehr viel diverser geworden sind. Aber bei Älteren und in Familien mit Kindern ist es doch noch die Regel. Und wir stellen fest, es gibt auch wieder eine Rückbesinnung, vor allem in den städtischen Milieus, überall dort, wo über neue Bäckereien jetzt wieder Brotkultur entwickelt wird.
Dann müssen wir keine Angst davor haben, dass das Abendbrot ausstirbt?
Ingke Günther: Das glauben wir nicht. Dafür ist das Konzept, gemeinsam am Tisch die Mahlzeit zuzubereiten und zu essen, zu bestechend. Und die Bilder, die Menschen vom Abendbrot in den Köpfen haben, sind sehr lebendig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Rückzug von Marco Wanderwitz
Die Bedrohten
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül