: Alltag zwischen drei Nationen
Seit zehn Jahren teilt Christa Randzio-Plath, Europaabgeordnete und Kandidatin der SPD bei der morgigen Europawahl, ihr Leben zwischen Hamburg, Straßburg und Brüssel auf ■ Von Judith Weber
Der Mann mit dem grauen Bart starrt irritiert auf das Wahlplakat. „Wo ist denn das Tantchen?“, fragt er und guckt sich suchend um. „Tantchen ist da hinten“, antwortet eine Wahlhelferin und deutet auf die Frau, die an der Kreuzung Infozettel verteilt. Der alte Mann ist verwirrt. Denn während Christa Randzio-Plath auf dem schwarz-weißen Poster tatsächlich aussieht, als dürfe man sie getrost „Tantchen“ nennen, ist die Bezeichnung in Natura etwa so passend, als würde man zu Außenminister Joschka Fischer „Onkelchen“ sagen.
Die Haare der Sozialdemokratin leuchten in hellem SPD-rot, Hose und Bluse in etwas dunklerem. Von der Frisur – glatt und kinnlang mit dichtem Pony – hat der Wind nur Reste übrig gelassen. Lachsrot ist der Mantel, der Christa Randzio-Plath vor Kälte und Nässe schützen soll und doch oft kläglich versagt.
„Zweimal bin ich gestern durchgeregnet“, erzählt sie, während sie Kärtchen mit ihrem Konterfei mittels kleiner Wäscheklammern an rote Rosen heftet. Einen Tag zuvor war es zwar trocken gewesen, aber „so kalt, daß ich abends zwei Teller Suppe essen mußte, um warm zu werden. Große Teller“. Wenigstens, lacht die Politikerin dann, „kriegt man jede Menge frische Luft im Wahlkampf. Sonst sitzen wir Abgeordnete ja nur drinnen“.
Wind und Wetter hat Randzio-Plath reichlich gehabt in den vergangenen Wochen. Einen Plenarsaal hat sie kaum von innen gesehen – auch kein Flugzeug, was ungewöhnlich ist für eine Frau, die ihr Leben seit zehn Jahren auf drei Nationen verteilt. Seit zwei Legislaturperioden sitzt sie für die SPD in den Ausschüssen des Europaparlaments; von dienstags bis freitags wohnt sie deshalb in Brüssel. Ein „kleines Appartment“ habe sie dort, erzählt Randzio-Plath, „mit ein paar Klamotten, Büchern und Kosmetika“. Am Wochenende geht es „mit dem Flieger“ nach Hamburg-Niendorf, wo ihr Mann, die Freunde und der sorgsam gehegte Garten sind. Einmal im Monat, wenn sich das Parlament zur Plenarwoche trifft, wohnt die Politikerin zudem für fünf Tage in Straßburg.
Der Ortswechsel bestimmt ihren Alltag. Wahlkampf dagegen ist Heimaturlaub, wenn auch ein hektischer. Nach sechs Wochen voller Infostände und Diskussionen kennt die Abgeordnete alle Märkte der Hansestadt, die meisten Einkaufszentren und viele Fußgängerzonen. Wie keine andere Kandiadatin für die morgige Europawahl hat sie ihren Werbefeldzug auf der Straße geführt. Dabei ist ihre Wahl so gut wie sicher. Randzio-Plath steht auf Platz fünf der bundesweiten SPD-Liste. Derzeit haben die SozialdemokratInnen 40 Sitze im EU-Parlament.
Das Wissen, daß ihr ein Platz im Plenum sicher ist, bremst die Abgeordnete keineswegs. Tausende Broschüren mit ihrem schwarz-weißen Tantchengesicht darauf hat sie in den vergangenen Wochen verteilt. Hunderten Kindern hat sie Lollies mit der Aufschrift „Euro-Pops“ in die klebrigen Hände gedrückt und nachgemachte Euronoten zuhauf an mürrische Marktfrauen verschenkt.
„Das ist Schmu', das brauch' ich nicht“, grollt eine Blumenverkäuferin morgens um zehn in Lohbrügge. Randzio-Plath, die an diesem Tag schon drei Stunden Wahlkampf hinter und elf weitere vor sich hat, legt unverdrossen ein Papp-Portemonaie mit Muster-Euros auf den Tresen. „Das brauchen Sie doch“, erklärt sie entschlossen, „Sie müssen wissen, wie das neue Geld aussieht“.
Wenn es um den Euro geht, wird die Juristin noch energischer als sonst. Schließlich hat sie als Vorsitzende des Unterausschusses Währung in Brüssel die Einheitsnoten zur Welt gebracht. Auf Fotos in den Wahlbroschüren sitzt sie im Ausschuß zwischen Männern in dunklen Sakkos; der rote Hosenanzug leuchtet wie eine Blume auf einem frischen Grab. „Der Euro und der europäische Beschäftigungspakt“, sagt Randzio-Plath, „das waren in letzter Zeit die beiden großen Projekte“ – die Themen, die einen Großteil der Zeit schluckten, von der sie doch so wenig hat.
Ihr Arbeitstag beginnt zu einer Uhrzeit, für die es in vielen Terminkalendern noch keine Vordrucke gibt. Wenn die ersten Büroangestellten der City Nord morgens um sieben aus der Bahn steigen, ist die Abgeordnete schon da. „Für sie auch eine Information zur Europawahl?“, fragt sie jede Passantin; wer nickt, bekommt eine Broschüre, an der ein Kugelschreiber klemmt.
„Mit Stift wird das lieber genommen“, weiß Randzio-Plath, die Pragmatikerin und Europäerin. Eine kleine Bestechung muß erlaubt sein zum Zwecke der Information. Schließlich gilt es, den Gedanken, „daß Europa die Zukunft ist“, in die Köpfe der WählerInnen zu pflanzen. Schon in der Schule, als das Dritte Reich diskutiert wurde, sei sie sicher gewesen, „daß der Nationalismus überwunden werden muß“, sagt Randzio-Plath. An der Hamburger Uni gründete sie zu diesem Zweck den Europäischen Jurastudentenverband und organisierte Kongresse in verschiedenen Staaten.
Daß Kugelschreiber, Luftballons und Rosen das politische Interesse der WählerInnen deutlich erhöhen, ist eine ihrer soziologischen Erkenntnisse des Wahlkampfes. Eine andere ist, daß „manche Frauen kommen und um einen Lollie für ihre Tochter bitten. Sie trauen sich nicht zu sagen, daß er für sie ist“, erzählt die SPDlerin. Amüsiert klingt sie, aber nicht belustigt. Sie lästert nicht, sondern beobachtet und zieht freundlich ihre Schlüsse.
Auf die Broschüren und Faltblätter, sagt die Abgeordnete, „gibt es drei Arten von Reaktionen“: die interessierten, die gelangweilten und die ablehnenden. „Können Sie mir noch so eines mitgeben? Für meine Kinder“, fragt ein Wurstverkäufer auf dem Lohbrügger Markt und steckt beide Zettel in die Schürzentasche. „Schön, daß wir uns mal treffen, ich habe sie schon zweimal gewählt“, strahlt ein älterer Herr mit „Fit statt Fett“-Broschüre unter dem Arm. Und eine weißhaarige Frau weist die dargebotenen Infos beinahe empört zurück. „Kindchen“, erklärt sie, „weißt Du, wie lange ich schon die SPD wähle?!“
Zur Gruppe zwei gehören jene HamburgerInnen, denen Brüssel schlicht egal ist. „Wofür brauchen wir eigentlich dort ein Parlament“, fragen die, und die Abgeordnete verteidigt ihren Arbeitsplatz schlagfertig mit einer Gegenfrage: „Warum, glauben Sie, brauchen wir eine Bürgerschaft?“.
Die dritte Gruppe ist am schwierigsten zu erreichen. Es sind jene, die Europa im Allgemeinen und die Sozialdemokraten im besonderen ablehnen. „Iihhh, SPD“, kreischt ein Student vor der Hamburger Uni-Mensa und läßt angewidert den rot-weißen Kugelschreiber fallen, „ist ja ekelhalft!“ Die Umstehenden lachen; die Politikerin bückt sich nach dem Kuli und klemmt ihn an die nächste Broschüre. „Diese Schuhe darf man sich nicht anziehen“, sagt sie schulterzuckend. Und dann, an den nächsten gewandt: „Für Sie eine Information zur Europawahl?“
Es sind noch nicht alle Werbehefte verteilt, da klingelt das Handy. Das Büro ist dran. „Der Focus will was zum Blair-Papier, und das Handelsblatt hat auch angefragt“, erklärt eine Referentin. Also sucht sich die Finanz- und Beschäftigungsexpertin im strömenden Regen einen ruhigen Platz und gibt Interviews übers Mobiltelefon. „Ich finde schon, daß wir ab und an schwierige Arbeitsbedingungen haben“, kommentiert sie ruhig, als sie nach zehn Minuten wiederkommt.
Der lachsrote Mantel ist schon wieder durch, die Frisur endgültig keine mehr, und im Fernsehstudio, wo sie schon erwartet wird, „haben die vermutlich nicht mal eine Visagistin“, klagt Randzio-Plath. „Das ist das schlimmste: Daß die Leute so unheimlich drauf achten, daß die Haare gut sitzen, auch wenn man den ganzen Tag draußen war.“
Die Umkleidekabine parkt zwei Straßen weiter. Ein waldgrüner Ford, ein Leihwagen, auf dessen Rückbank neben Butterkeksen, Wahlwerbung und Akten ein dunkelblaues Kostüm liegt. Das Sakko und den kurzen Rock „habe ich immer hier drin, weil ich zwischen den Terminen eh nicht nach Hause komme“, erklärt Randzio-Plath.
Vor abends um halb zehn setzt sie selten einen Fuß in die Tür. Der Wecker klingelt außerhalb des Wahlkampfes um halb fünf, „dann muß ich ja oft das Flugzeug nach Brüssel erwischen“. Wenn sie nicht vorhat, vor dem Frühstück das Land zu wechseln, wird die Aufstehzeit auf sechs verschoben. Dann ist drei Stunden lang Ruhe. Kaffee trinken. Zeitung lesen. Kein Telefon. „Vor neun“, sagt Randzio-Plath, wird man glücklicherweise selten gestört“.
Der Streß ist nach zehn Jahren zur Gewohnheit geworden. Viele Hamburger Freunde sind geblieben, auch wenn „das Telefon im Alltag schon eine große Rolle spielt“. Andere sind dazugekommen, hauptsächlich aus Brüsseler Ausschüssen. Den völligen Ausstieg aus dem Beruf schafft Randzio-Plath selten. „Ich habe eben eine sieben-Tage-Woche“, erklärt sie. „Aber im Sommer fahre ich ans Meer. Drei Wochen lang. Ganz sicher“.
Einfach mal ausspannen wollte sie ursprünglich auch am Wochenende nach der Wahl, vielleicht auf ihrer deutschen Lieblingsinsel Amrum. Dann jedoch „habe ich gemerkt, daß an dem Wochenende Kirchentag ist. Da sind wir immer dabei“. Wieder einmal weicht die Entspannung den Pflichten, und Christa Randzio-Plath nimmt's wieder einmal leicht: „Dann eben ein an einem anderen Tag“. Vielleicht hätte es an der Nordsee sowieso geregnet.
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