Allert-Rücktritt: Bauernopfer oder genialer Coup
Der Rücktritt von Lageso-Chef Franz Allert verstärkt den Druck auf Sozialsenator Mario Czaja (CDU) - und in der Koalition. Auch das geplante Landesamt für Flüchtlinge verliert Zustimmung.
Mit dieser plötzlichen Wendung im seit Monaten währenden Streit darüber, wer die Verantwortung für das Chaos vor der Berliner Behörde für Flüchtlingsbetreuung trägt, hat offenbar auch im Abgeordnetenhaus kaum jemand gerechnet. Nachdem der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) am Mittwochabend in der rbb-„Abendschau“ mit Nachdruck „eine neue Spitze im Lageso“ gefordert hatte, war der Chef dieses Amtes, Franz Allert, umgehend zurückgetreten. Unter den ParlamentarierInnen, die am Donnerstag über den künftigen Haushalt (siehe Seite 22) und ein neues Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten debattierten, sorgte beides für Überraschung – allen voran bei Allert übergeordnetem Sozialsenator Mario Czaja (CDU), der bei seiner Rede sichtlich um Fassung rang.
Das Amt, dem Allert bis dahin vorstand, steht seit Langem in der Kritik (siehe Kasten). Es kollabierte vor steigenden Flüchtlingszahlen. Hunderte auf Leistungen der Behörde angewiesene Asylsuchende warten seit Monaten teils schon nachts in den Warteschlangen. Verletzungen oder Zusammenbrüche sind im Gedränge an der Tagesordnung. Zudem ist ein Viertel der in diesem Jahr in Berlin angekommenen 70.000 Flüchtlinge noch nicht offiziell registriert und damit etwa von medizinischer Versorgung ausgeschlossen. Der Bearbeitungsstau verhindert zudem deren Verteilung in andere Bundesländer.
OppositionspolitikerInnen und freiwillige Helfer, die die wartenden Flüchtlinge vor dem Lageso und in den Notunterkünften betreuen, forderten deshalb schon lange den Rücktritt von Allert, aber auch von Senator Czaja. Erst am Montag hatten RechtsanwältInnen vom Republikanischen AnwältInnenverein (RAV) und der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ) Anzeige gegen beide wegen „Körperverletzung und Nötigung im Amt“ erstattet.
Vielen gilt Allert nun als Bauernopfer. Der Behördenchef sei für das Chaos nicht allein verantwortlich, sagt etwa Hakan Taș, flüchtlingspolitischer Sprecher der Linke-Fraktion. Auch Czaja müsse zu seiner Verantwortung stehen.
Dem Senator bleibe künftig auch gar nichts anderes mehr übrig, meint die Abgeordnete Canan Bayram, Taș’ Kollegin von den Grünen: Bislang habe Czaja Allert benutzt, um die Verantwortung für die Missstände in der Behörde auf ihn abzuwälzen. „Jetzt wird jede seiner Entscheidungen zeigen, ob er selbst die Sache im Griff hat.“ Müller habe mit der Entlassungsforderung dem CDU-Senator sein Schutzschild weggenommen.
Schon seit 2013 ist das Lageso in Not. Die Behörde, die für die Registrierung und Versorgung von Flüchtlingen zuständig ist, macht durch Überlastungsanzeigen der damals etwa 90 MitarbeiterInnen Schlagzeilen. Der Krieg in Syrien sorgt für den Anstieg der Flüchtlingszahlen.
2014 gerät Lageso-Chef Allert unter Druck, als bekannt wird, dass der Geschäftsführer eines Flüchtlingsheimbetreibers sein Patensohn ist.
2015 stellen daraufhin beauftragte externe Wirtschaftsprüfer fest, dass kaum einer der vom Lageso mit Betreibern abgeschlossenen Verträge den Vorschriften entspricht. Die mittlerweile über 300 Lageso-Mitarbeiter werden der bis zu 800 täglich kommenden Flüchtlinge nicht mehr Herr.
Aktuell treffen täglich etwa 270 Asylsuchende in Berlin ein.
Mit seinem Coup hat der Regierende auch Czajas Plänen, die für Flüchtlinge zuständigen Abteilungen des Lageso auszugliedern und in einem neuen Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten zusammenzufassen, den Wind aus den Segeln genommen. In der Debatte über den entsprechenden Gesetzentwurf im Parlament am Donnerstag wusste der Senator kaum zu erklären, wie die Einrichtung des neuen Amtes die Missstände in den Verwaltungsabläufen verbessern soll. Stattdessen erging er sich in Vorwürfen gegenüber der Linken, die während ihrer Regierungsbeteiligung 2002 bis 2011 500 Stellen im Lageso abgebaut hätten, sowie den Grünen, die es im von ihnen regierten Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg nicht einmal geschafft hätten, die 500 protestierenden Oranienplatz-Flüchtlinge unterzubringen.
Czajas Pläne „reichen nicht, um die Situation zu verbessern“, kontere die Grüne Canan Bayram. Die Linke Elke Breitenbach nannte Czajas Auftritt „unsäglich und unverschämt“. Klar sei nur, dass die neue Behörde zehn Leitungsstellen bekommen solle. „Alles andere ist unklar“, so Breitenbach, „und Sie haben das heute auch nicht erklären können.“
Dass nun der Sozialsenator selbst in der Schusslinie steht, beeinträchtigt auch das Klima in der rot-schwarzen Regierungskoalition. CDU-Fraktionsvize Stefan Evers nannte Müllers Sturz von Allert eine „öffentliche Hinrichtung“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter