piwik no script img

Alle gemeinsam gegen Juppé

Heute streikt in Frankreich der öffentliche Dienst – so ähnlich wie jetzt hatte auch im vergangenen Jahr die große Streikbewegung angefangen  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Wer es eilig hat, sollte Frankreich heute vermeiden, denn das Land wird streikend stillstehen. Wer hingegen Interesse an Arbeiterbewegungen hat, sollte unbedingt in Paris auf die Straße gucken, denn dort wird sich ab 11 Uhr die erste branchenübergreifende nationale Demonstration seit dem Arbeitskampf des vergangenen Jahres abspielen. Ausnahmslos alle Gewerkschaften und alle linken Parteien – die Sozialistische Partei (PS) eingeschlossen – haben dazu aufgerufen. Die große Gemeinschaft der Unzufriedenen mit der Regierung von Premierminister Alain Juppé wird sich einfinden und manche selbsternannte Revolutionsprognostiker sagen bereits seit Wochen den Anfang eines Aufstands für diesen Donnerstag voraus.

Schulen, Postbüros und Behörden bleiben für 24 Stunden geschlossen. Die Krankenhäuser richten einen Notdienst ein. Die Luftkontrolleure, Hafenarbeiter, Metrobediensteten, Elektrizitäts- und Gaswerker treten in den Streik. Und die Eisenbahner von der SNCF, die schon im letzten Jahr Speerspitze der Bewegung waren, werden auch dieses Mal ein bißchen mehr als die anderen tun: Sie stellten ihre Tätigkeit bereits gestern abend ein und wollen sie erst morgen früh wieder aufnehmen. Kurioserweise werden auch viele niedergelassene Ärzte heute ihre Praxen schließen, und sich der Demonstration anschließen – doch anstatt den öffentlichen Dienst zu verteidigen, werden sie dagegen protestieren, daß sie im Rahmen der Gesundheitsreform „verbeamtet“ werden.

„Für die Beschäftigung, für den öffentlichen Dienst und für die Kaufkraft“, lauten die zentralen Forderungen des Streiks. Neben der kommunistischen CGT und der gemäßigten FO, die gemeinsam die Bewegung des letzten Jahres getragen haben, hat dieses Mal auch die sozialistische CFDT dazu aufgerufen, die in den vergangenen Monaten wichtigste Ansprechpartnerin der Regierung geworden war.

Landesweit stoßen die Forderungen der Streikenden auf Sympathie und Verständnis. Besonders die Sorge vor Arbeitslosigkeit ist der Mehrheit der Franzosen gemein. Dennoch wird die Bewegung kaum Mitstreiter in der privaten Wirtschaft finden, wo sich seit diesem Sommer die Ankündigungen von Firmenschließungen, -verlagerungen ins Ausland und Sozialplänen nur so überschlagen. Bis gestern hatte lediglich die Moulinex-Belegschaft, der demnächst Massenentlassungen bevorstehen, ihre Beteiligung angekündigt.

Der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der Privatwirtschaft ist in den vergangenen Monaten noch weiter gesunken und liegt gegenwärtig auf dem historischen Tiefststand von fünf Prozent. Der öffentliche Dienst ist längst die letzte Bastion der französischen Gewerkschaften. Das ist auch der Grund, weshalb viele Streikende ihre heutige Aktion als Kampf für ihre eigenen Interessen und für die derjenigen verstehen, „die zu schwach sind, ihn selbst zu führen.“

Einzelne Branchen hatten ihre Kampfbereitschaft bereits in den vergangenen Wochen mit isolierten Streiks bewiesen: Ende September protestierten die Lehrer gegen die Reduzierung der Planstellen. Am vergangenen Samstag kamen 20.000 Rüstungsarbeiter nach Paris, um für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze zu demonstrieren. Und vorgestern traten zahlreiche französische Journalisten in den Streik, weil sie ihre von der Regierung gestrichene 30prozentige Steuerbefreiung beibehalten wollen. Resultat der journalistischen Bewegung vom Vortag waren gestern mager bestückte Kioske. Manche Zeitungen erschienen – mit großen Weißflächen.

Premierminister Juppé, dessen Sturheit im vergangenen Jahr dafür gesorgt hatte, daß der Streik über drei Wochen dauerte, machte dieses Mal schon im Vorfeld ein paar Rückzieher: Er verzichtete auf Sparmaßnahmen beim Krankentransport und bei den Nachtdiensten im Krankenhaus, signalisierte den Journalisten Kompromißbereitschaft und kündigte dem öffentlichen Dienst, dessen Gehälter 1996 eingefroren sind, eine neue Lohnrunde an – allerdings erst für Ende des Jahres.

In manchen französischen Redaktionsstuben ist schon seit Monaten von einem „heißen Herbst“ und von einer angeblich bevorstehenden Massenbewegung die Rede. Das mag daran liegen, daß die letzte große soziale Bewegung vor fast genau einem Jahr – am 10. Oktober 1995 – mit einer Demonstration des öffentlichen Dienstes begann. Es hat aber auch damit zu tun, daß jene Bewegung wirklich niemand vorausgesagt hatte.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen