piwik no script img

Alkohol und FußballEmotionen ohne Rausch

Die „Weiß-Braunen Kaffeetrinker*innen“ vom FC St. Pauli sind ein Fanclub – und eine Selbsthilfegruppe. Die Mitglieder helfen sich, trocken zu bleiben.

Hier nur Kaffee oder Limonade: Bierfreie Zone im Millerntorstadion Foto: Dmitrij Leltschuk

Hamburg taz | Vor dem Stadion des FC St. Pauli stehen rund 15 Mitglieder der Weiß-Braunen Kaf­fee­trin­ke­r*in­nen (WBK), rauchen Zigaretten und trinken – nicht Kaffee, sondern eisgekühlte Limonade. Es ist ein warmer Sommerabend, der Asphalt am Millerntor glüht, schattige Plätze sind kaum zu finden. „Eine kleine Pause für die Süchtigen unter uns“, sagt Michael Krause und zieht genüsslich an seiner Zigarette.

Nach der Zigarettenpause geht es zurück in den Fanladen, ein selbst verwalteter Treffpunkt der St.-Pauli-Fans, der unterhalb der Gegentribüne ins Stadion gebaut ist. Die „WBKs“, wie sie sich nennen, treffen sich hier immer am zweiten Montag im Monat und diskutieren über ihren Verein. Hier drinnen ist es düster, braune Jalousien lassen kaum Tageslicht in den Raum. An den Wänden kleben Hunderte Sticker – manche von ihnen mit St.-Pauli-Logo, andere mit politischen Statements.

„Kannst du mir eine Rhabarberschorle aus dem Kühlfach geben?“, ruft einer und setzt sich auf eine schwarze Ledercouch. Was auf den ersten Blick ganz gewöhnlich wirken mag, ist für einen Fußball-Fanklub untypisch: Auf den Tischen stehen keine Bierflaschen, sondern Softdrinks, Süßes und Kaffee. Denn die Kaf­fee­trin­ke­r*in­nen sind nicht nur ein St.-Pauli-Fanklub, sondern auch eine Selbsthilfegruppe für all diejenigen, die suchtgefährdet sind.

Gegründet haben den Fanklub vor 27 Jahren zwei Dauerkartenbesitzer, nachdem sie sich in einer Nachsorgeeinrichtung kennengelernt hatten und gemeinsam wieder ins Stadion gehen wollten. Damals wurde Al­ko­ho­li­ke­r*in­nen empfohlen, ihre alten Trinkstätten zu meiden, weil sie als Hochrisiko-Orte galten. Für suchtgefährdete Fußballfans bedeutete das also auch, den Fußball hinter sich zu lassen – so auch für Stefan, heute 43, und Mitglied im Fanclub.

Kiste Bier nach dem Spiel

Seit seinem dreizehnten Lebensjahr gehörte nicht nur der FC St. Pauli untrennbar zu seinem Leben, sondern auch der Alkohol und andere Drogen: „Ich komme aus einem kleinen Dorf, das nicht mehr als 1.000 Einwohner hat. Da war es schon in Jugendjahren üblich, nach einem gewonnenen Spiel einen Kasten Bier auf den Tisch zu stellen.“

Teilweise sei er mit einer Eintrittskarte nach Hamburg gefahren und nie im Stadion angekommen, weil er in einer Kneipe versackt war. Das ging so, bis er während seiner dritten Therapie Michael Krause kennenlernte, der ihn zu den trockenen Fans einlud. Für Stefan war der Fanklub eine Chance, sein Hobby auch ohne Drogenkonsum zurückzugewinnen. Seither hat er jedes Heimspiel gesehen, ohne einen Schluck Alkohol zu trinken. „Der Fanklub gibt mir einfach unglaublich viel Kraft, abstinent zu bleiben.“

Seit fast dreißig Jahren gehen die Weiß-Braunen Kaf­fee­trin­ke­r*in­nen gemeinsam ins Stadion und ermutigen sich gegenseitig, nicht rückfällig zu werden. Gerade im Fußball ist das eine schwer überwindbare Hürde. Alkohol und Fußball scheinen untrennbar zusammenzugehören. Fast jeder deutsche Fußballverein hat einen Sponsorenvertrag mit einer Brauerei, weshalb die meisten Vereine das Thema kaum problematisierten, erklärt Krause, einer der Spre­che­r*in­nen der WBK. Ganze Stadien sind voll von Werbung für Sportwetten und Spirituosen.

Daher möchte der Fanklub nicht nur ein Schutzort für Betroffene sein, sondern auch andere Fußballfans dafür sensibilisieren, wie allgegenwärtig der Sucht-mittelkonsum im deutschen Fußball ist. Deswegen ist er inzwischen auch offen für Menschen ohne eigene Suchterfahrung.

Erstmals ein Präventionskonzept

Vor etwa drei Jahren haben die WBK dann mehrere Anträge auf einer Mitgliederversammlung des FC St. Pauli gestellt: ein Verbot der mobilen Verkäufer, die auf den Rängen Bier-Nachschub aus einem Rucksack zapften; den langfristigen Ausstieg aus der Werbung für Sportwetten und Alkohol sowie vier alkoholfreie Getränkestände am Millerntor. Damals lehnte der Verein alle Anträge ab.

2022 finanzierte der Fanklub auf eigene Faust den ersten alkoholfreien Getränkestand „Trockendock 1“ durch Spenden. Im Februar dieses Jahres schrieb er dann Fußballgeschichte: Gemeinsam mit dem FC St. Pauli haben die WBK ein Präventionskonzept gegen Sucht und Alkoholkonsum im Fußball veröffentlicht. So möchten sie für die Risiken von Suchmitteln „sensibilisieren, bevor etwas passiert, nicht erst dann, wenn Menschen bereits süchtig sind“, erklärt Krause.

Daher konzentriert sich ihre Präventionsarbeit auch auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen, die durch Stadionbesuche oftmals zum Konsum verleitet werden. Man möchte Alternativen schaffen und die Umgebung im Stadion „suchtrisikoärmer“ gestalten. Dabei gehe es nicht darum, den Alkoholkonsum zu verbieten oder einzuschränken, sondern einen verantwortungsvollen Umgang damit zu finden und zu signalisieren: Fußball-Emotionen kann man auch ohne Rausch erleben.

Einfach ist das nicht, aber machbar – besonders, wenn man Unterstützung erfährt. Das zeigen auch Patrick und Mario, die vor einigen Monaten den WBK beigetreten sind. Seitdem sie dem Alkohol den Rücken gekehrt hätten, habe sich ihr Leben sehr positiv verändert: „Ich fühle mich jetzt wirklich klasse“, sagt Mario. „Ich stehe morgens um sechs auf, abends kann ich ohne Alkohol ins Bett gehen – das wäre mir früher im Traum nicht eingefallen.“

Immer mal wieder schwierige Phasen

Während die drei Fußballfans von ihrem Fanklub erzählen, wird schnell klar: Der Alkohol begleitete sie ein Leben lang. Nicht nur in Verbindung mit Fußball. Meist waren es Schicksalsschläge, Depressionen oder Stress, die sie zum Glas greifen ließen. Über die Jahre wurde der Alkohol dann zur Normalität, so Mario.

Heute wissen sie, dass der für sie einzig richtige Umgang mit Alkohol die Abstinenz ist. „Diesmal ist alles anders“, sagt Patrick, „als hätte ich es irgendwie begriffen und ein gewisses Alter erreichen müssen, um zu verstehen: Ich kann nicht drei Bier trinken, ich kann nur alle Biere trinken.“

Der Zusammenhalt im Fanklub gibt ihnen Kraft, ihre Leidenschaft ohne Rauschmittel auszuleben. Vor jedem Heimspiel treffen sie sich am Fanladen, bauen den Infostand am Trockendock 1 auf und gehen gemeinsam auf die Tribüne. Es gebe auch immer wieder Momente, in denen man stark bleiben müsse: „Als ich beim Aufstieg dabei war“, sagt Stefan, „hatte ich eine schwierige Phase, in der ich gemerkt habe, dass ich langsam nach Hause muss, weil es zu viele Triggerpunkte gab.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!