Alexei Nawalny schuldig gesprochen: Prozess im Paralleluniversum
Ein Moskauer Gericht verurteilt den Kremlkritiker wegen angeblichen Betrugs zu neun Jahren Haft. Für die Richterin hat er nur verachtende Worte übrig.
Es war Nawalnys letztes Wort in einem konstruierten Verfahren wegen Beleidigung und Veruntreuung an einem Moskauer Gericht. Am Dienstag, eine Woche nach seinem gewohnt frechen Auftritt vor der Richterin, wird er genau deswegen zu neun Jahren Haft verurteilt – als hätte tatsächlich jemand am Telefon sein „O.K.“ gegeben.
Russlands bekanntester Oppositionspolitiker, der Hunderttausende Unzufriedene quer durchs Land mobilisieren konnte, der einen Giftanschlag mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok überlebt hat, sich aber nie hat das Wort nehmen lassen, wird für weitere Jahre eingesperrt. Denn das russische Regime duldet keine Kritiker*innen. Das Strafmaß wurde zunächst nicht bekannt. Die Staatsanwaltschaft hatte 13 Jahre gefordert.
Gerichtsverfahren von Nawalny zu verfolgen, war schon immer eine schwierige Angelegenheit. Die Justiz wählte oft enge Verhandlungsräume, ließ Journalist*innen nicht in Gerichtsgebäude, schaltete auch gern eine Live-Übertragung ein, doch die Monitore fielen aus „technischen Gründen“ auch schnell wieder aus. Zuletzt hatte es nur noch Gerichtsverhandlungen im sogenannten „Außendienst-Modus“ gegeben: Prozesse hinter Gefängnismauern. Auch an diesem Dienstag.
428 Tage Haft
In Pokrow, der Strafkolonie etwa 100 Kilometer von Moskau entfernt, hatten die Justizbeamten eine Aula zum Gerichtssaal umbauen lassen. Ein paar Räume weiter verbüßt Nawalny seine zweieinhalbjährige Strafe, weil er gegen Bewährungsauflagen in einem früheren, ebenfalls absurden Verfahren, verstoßen haben soll. Seit 428 Tagen sitzt der 45-jährige Jurist in Pokrow ein.
Etwa hundert Journalist*innen hatten sich am Dienstag vor der Anstalt eingefunden, in zwei Nebenräumen in der Nähe der Aula durften sie Platz nehmen, vor Monitoren, die – nach Berichten aus Pokrow – immer wieder ausfielen. Von Zeit zu Zeit sollen immer wieder Bild und Ton ausgefallen sein. Doch Russlands Justiz nennt den Prozess „offen und transparent“.
Die Richterin Margarita Kotowa, die kurz vor dem Schuldspruch befördert worden war, spricht gleich zu Beginn den Angeklagten für schuldig, danach liest sie ihre Begründung ab – wie so oft entspricht sie auch diesmal fast eins zu eins der Anklageschrift. Das Strafmaß wird erst am Ende der Verhandlung bekannt, wie es in russischen Prozessen üblich ist. Nach fünfeinhalb Stunden murmelt Kotowa leise: „Neun Jahre.“
Die beiden Fälle, in denen sich Nawalny verantworten muss, haben keine Verbindung zueinander. Zum einen soll Nawalny, so ist das Gericht überzeugt, umgerechnet vier Millionen Euro gestohlen haben, die Menschen an seine Antikorruptionsstiftung FBK gespendet hatten. Vier angeblich Geschädigte hatten gegen ihn ausgesagt, zwei davon standen zu der Zeit selbst im Visier der Justiz.
Repressionen nehmen zu
Die Stiftung ist mittlerweile aufgelöst. Die russische Justiz hatte sie als extremistisch eingestuft, wie zuletzt auch Meta, den Mutterkonzern von Facebook und Instagram. Damit ist dieser nun in Russland verboten. Der zweite Fall bezog sich auf 104 Äußerungen Nawalnys bei einem früheren Prozess, die das Gericht als beleidigend einstufte.
Alles, was das Regime in Moskau nicht hören und ertragen kann, wird derzeit nach und nach aufgelöst. Andersdenkende nennt der russische Präsident Wladimir Putin „Verräter und Abschaum“. Die Repression nach innen nimmt weiter zu. Das Urteil gegen Nawalny, der nach dem russischen Angriff auf die Ukraine von einem Zerfall Russlands spricht, passt in die hasserfüllte Rhetorik eines Systems, das aus einer umgedeuteten Parallelrealität heraus handelt, nicht nur in der Ukraine.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott