Aktuelle Coronamaßnahmen: Mediziner warnen vor Überlastung

Die Zahl der Neuinfektionen steigt weltweit weiter an. Ärzte warnen vor Personalengpässen in der Pflege. Angela Merkel verteidigt Maßnahmen. Die Coronalage im Überblick.

Der Deutsche Bundestag

Eine Pflegerin auf der Intensivstation in Essen, wo Coronapatienten behandelt werden Foto: Michael Kappeler/dpa

Intensivmediziner warnen vor drohender Überlastung

Auf Deutschlands Intensivstationen ballt sich angesichts der rasant steigenden Corona-Infektionszahlen Wut, Frust und Traurigkeit. „Es ist jetzt schon nachweislich schlimmer als im Frühjahr“, sagte Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). „In 14 Tagen haben wir die schweren Krankheitsfälle und unsere großen Zentren kommen unter Maximalbelastung.“ Kliniken müssten sich deshalb bereits jetzt fragen, bei welchen Patientinnen sie vereinbarte Operationen guten Gewissens verschieben könnten. Die Devise könne nur lauten: „Fahrt runter!“

In Berlin, Bayern und Nordrhein-Westfalen seien einige Kliniken schon gut mit Covid-19-Patienten belegt, andere Erkrankte würden bereits verdrängt, sagte Stefan Kluge, Leiter der Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Die Lage sei „absolut besorgniserregend“. Von den Infizierten müssten etwa 5 Prozent im Krankenhaus behandelt werden, 2 Prozent auf der Intensivstation, so Kluge. Über 70-Jährige hätten ein Todesrisiko von über 50 Prozent.

Das Problem sei dabei nicht so sehr die Anzahl der Intensivbetten. „Wir haben mehr Betten und mehr Beatmungsgeräte als zu Beginn der Pandemie. Aber wir haben nicht eine müde Maus mehr beim Personal“, sagte Janssens. „Bis jetzt sind wir zurechtgekommen. Aber wir müssen die Pflegepersonal-Untergrenzen wieder aussetzen, wenn das so weitergeht.“

Laut Janssens gibt es auch eindeutig mehr Infektionen unter Klinikmitarbeitenden. „Wir haben im März und April kaum Infektionen gehabt, die jemand von draußen hereingetragen hat“, sagte er. „Jetzt haben wir in kürzester Zeit Mitarbeiter, die positiv sind. Sie sind sofort raus.“ Andere hätten engen Kontakt zu positiv Getesteten gehabt. „Die sind dann auch noch weg.“ Das Schichtsystem auf Intensivstationen könne damit schnell aus den Fugen geraten. Ein beatmeter Covid-19-Patient braucht allein bis zu fünf Schwestern oder Pfleger. (dpa)

Weltweit mehr Coronafälle, neuer Höchstwert in Russland

In Russland verzeichnen die Behörden 17.717 Neuinfektionen, das sind so viele wie nie zuvor binnen 24 Stunden. Allein 4.906 der Fälle wurden in der Hauptstadt Moskau nachgewiesen. Insgesamt steigen die Ansteckungsfälle auf über 1,58 Millionen. 366 weitere Menschen starben mit oder an dem Coronavirus, seit Beginn der Epidemie sind es damit 27.301. Weltweit steht Russland bei den Infektionen auf Platz vier hinter den USA, Indien und Brasilien, allerdings mit deutlich weniger Todesfällen.

Frankreichs Gesundheitsminister Olivier Veran schließt eine dritte Coronavirus-Welle nicht aus. Das sagt er dem Radiosender France Info. Ab Freitag gelten in Frankreich schärfere Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. Veran sagt, derzeit seien in Frankreich vermutlich eine Million Menschen mit dem Virus infiziert.

Weltweit haben sich mehr als 44,2 Millionen Menschen nachweislich mit dem Coronavirus angesteckt. Das ergibt eine Reuters-Erhebung auf Basis offizieller Daten. Fast 1,17 Millionen Menschen sind demnach mit oder an dem Virus gestorben. Die meisten Infektionen weltweit verzeichnen die USA, gefolgt von Indien, Brasilien, Russland und Frankreich. (rtr)

Kanzlerin verteidigt Coronamaßnahmen

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat im Bundestag die getroffenen Coronamaßnahmen verteidigt. Die Gesundheitsämter seien mit der Ausbreitung überfordert, 75 Prozent der Infektionen können demnach nicht mehr nachverfolgt werden. Merkel sagte vor dem Hintergrund der steigenden Infektionszahlen: „Wir befinden uns zu Beginn der kalten Jahreszeit in einer dramatischen Lage.“

Ginge die Entwicklung so weiter, wäre die Intensivmedizin schon bald überfordert, sagte die CDU-Politikerin und fügte mit Blick auf die Pandemie hinzu: „Sie betrifft uns alle.“ Die beschlossenen Maßnahmen sind nach ihren Worten daher „geeignet, erforderlich und verhältnismäßig“. Die derzeitige Dynamik des Infektionsgeschehens könne die Intensivmedizin in wenigen Wochen überfordern, warnte Merkel und verwies darauf, dass sich die Zahl der intensivmedizinisch betreuten Covid-19-Patienten in den vergangenen zehn Tagen auf mehr als 1.500 verdoppelt habe. Wenn man warte, bis die Intensivstationen voll sind, „dann wäre es zu spät“, sagte sie. (dpa)

Merkel hatte am Mittwoch mit den Regierungschefs der Länder erneute drastische Beschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens beschlossen. Restaurants, Kultur- und Freizeiteinrichtungen sollen ab der kommenden Woche für den ganzen November schließen. Die Bürger sollen ihre privaten Kontakte auf ein Minimum reduzieren.

Sie verstehe die Frustration und Verzweiflung aller, die trotz erarbeiteter Hygienekonzepte schließen müssten, sagte Merkel. Doch in der gegenwärtigen Situation könnten Hygienekonzepte ihre Kraft nicht mehr entfalten. Es gebe kein anderes Mittel als konsequente Kontaktbeschränkungen, um die Pandemie auf ein beherrschbares Niveau zu bringen.

Kanzleramtsminister Braun zu den Maßnahmen

Das Maßnahmenpaket sei gut, müsse aber auch von der Bevölkerung mitgetragen werden, sagte Kanzleramtsminister Helge Braun im ARD-„Morgenmagazin“. Er sei zuversichtlich, dass damit ein Gesundheitsnotstand in Deutschland verhindert werden könne.

Auch wirtschaftlich ist es ihm zufolge sinnvoll. Dort, wo die Infektionszahlen höher seien, seien auch die wirtschaftlichen Einbrüche höher, sagt er. „Zu glauben, dass kein Lockdown bedeutet, es läuft wirtschaftlich besser, ist wahrscheinlich komplett falsch.“ Die Maßnahmen seien so bemessen, „dass wir glauben, … dass wir genau diesen November brauchen“. Ziel sei es, im Dezember wieder „mehr wirtschaftliches Leben“ und vor allem „mehr private Kontakte in der Weihnachtszeit“ möglich zu machen. (taz)

Neuer Höchstwert: 16.774 Coronaneuinfektionen

Die Zahl der registrierten Coronaneuinfektionen in Deutschland hat mit 16.774 Fällen binnen eines Tages einen neuen Höchstwert erreicht. Dies geht aus Angaben des Robert-Koch-Instituts vom frühen Donnerstagmorgen hervor. Der bisherige Höchstwert vom Vortag lag bei 14.964 Fällen. Am Donnerstag vor einer Woche hatten die Gesundheitsämter 11.287 Neuinfektionen gemeldet. Damit hatte der Wert erstmals seit Beginn der Coronapandemie in Deutschland die Marke von 10.000 überschritten.

Die jetzigen Werte sind nur bedingt mit denen aus dem Frühjahr vergleichbar, da mittlerweile wesentlich mehr getestet wird und dadurch auch mehr Infektionen entdeckt werden.

Insgesamt haben sich dem RKI zufolge seit Beginn der Pandemie bundesweit 481.013 Menschen mit Sars-CoV-2 infiziert. Die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit dem Virus stieg bis Donnerstag um 89 auf insgesamt 10.272. Das RKI schätzt, dass rund 339.200 Menschen inzwischen genesen sind.

Die Reproduktionszahl, kurz R-Wert, lag in Deutschland laut RKI-Lagebericht vom Mittwoch bei 1,03. Das bedeutet, dass ein Infizierter etwas mehr als einen weiteren Menschen ansteckt. Der R-Wert bildet jeweils das Infektionsgeschehen etwa eineinhalb Wochen zuvor ab.

Zudem gibt das RKI in seinem Lagebericht ein sogenanntes Sieben-Tage-R an. Der Wert bezieht sich auf einen längeren Zeitraum und unterliegt daher weniger tagesaktuellen Schwankungen. Nach RKI-Schätzungen lag dieser Wert am Dienstag bei 1,17. Er zeigt das Infektionsgeschehen von vor 8 bis 16 Tagen.

Mit einer Regierungserklärung im Bundestag will Bundeskanzlerin Merkel am heutigen Donnerstag die zusätzlichen Coronamaßnahmen erläutern. (taz/dpa)

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