Aktivistin zum gestaffelten Mutterschutz: „Jede dritte Frau erlebt eine Fehlgeburt“
Natascha Sagorski hatte selbst eine Fehlgeburt und startete eine Petition, aus der nun ein Gesetz wurde: Der gestaffelte Mutterschutz.
taz: Frau Sagorski, am Donnerstagabend hat der Bundestag über den gestaffelten Mutterschutz abgestimmt. Frauen sollen zukünftig bei einer Fehlgeburt ab der 13. Woche das Recht auf Mutterschutz bekommen, je später die Fehlgeburt, desto länger der Mutterschutz. Sie haben die Petition gestartet, auf der dieses Gesetz beruht. Wie kam es dazu?
Natascha Sagorski: Ich hatte vor fünf Jahren eine Fehlgeburt. Da wurde ich ins Krankenhaus geschickt, für eine Ausschabung unter Vollnarkose. Als ich danach die Ärztin um eine Krankschreibung bat, hat sie gesagt: „Sie können morgen wieder arbeiten, das brauchen Sie nicht“. Das war echt heftig: Ich habe geblutet, ich hatte Schmerzen, meine Hormone mussten sich nach der Fehlgeburt umstellen. Und ich war in Trauer.
hat die Petition für den gestaffelten Mutterschutz gestartet und den Verein Feministische Innenpolitik gegründet. Im April erscheint ihr Buch „Wie wir mit unseren Kindern die Demokratie verteidigen“
taz: Ist es normal, dass Frauen nach einer Fehlgeburt sofort wieder arbeiten?
Sagorski: Ich habe lange gedacht, dass ich eine blöde Ärztin erwischt hatte. Inzwischen haben mir viele Frauen erzählt, dass sie Ähnliches erlebt haben. Auch Hebammen, Sternenkind Vereine und Trauerbegleiter*innen sagen, dass sie so was gut kennen.
taz: Woher kommt das?
Sagorski: Fehlgeburten sind immer noch ein Tabu. Wenn Probleme nicht besprochen werden, dann erreichen sie die Politik nicht. Der Fokus liegt einfach nicht auf Themen, die Frauen und Frauengesundheit betreffen.
taz: Warum sprechen wir so wenig darüber?
Sagorski: Es geht um Trauer und Tod, das ist immer schwierig. Und es gibt diese Regel: Rede erst über deine Schwangerschaft, wenn die zwölf Wochen vorbei sind. Die meisten Fehlgeburten passieren nämlich im ersten Trimester. Das impliziert, dass man frühe Fehlgeburten mit sich ausmachen muss. Dabei erlebt jede dritte Frau eine Fehlgeburt.
taz: Sie haben ein Buch geschrieben mit Geschichten von Frauen, die eine Fehlgeburt hatten. War es schwer, Frauen zu finden, die sprechen wollten?
Sagorski: Ich wurde im Gegenteil geflutet mit Nachrichten von Frauen, die gesagt haben: Danke, dass du fragst. Viele haben das Gefühl, sie belästigen ihr Gegenüber, wenn sie darüber sprechen, dass sie ihr Baby verloren haben. Viele Frauen erleben aber auch, dass, sobald sie selbst offen sind, viele andere zu ihnen kommen und von sich selbst erzählen.
taz: 80 Prozent der Fehlgeburten passieren im ersten Trimester, der gestaffelte Mutterschutz kommt aber erst ab der 13. Woche.
Sagorski: Ja, das ist das Ergebnis, das wir mit einer demokratischen Mehrheit rausholen konnten. Wir wollen den gestaffelten Mutterschutz auch im ersten Trimester. Wir müssen diese Frauen auch schützen, mindestens mit dem Recht auf Krankschreibung. Noch fehlt uns aber die demokratische Mehrheit.
taz: Was muss sich noch politisch bewegen?
Sagorski: Wir brauchen Aufklärung, das Allgemeinwissen zu Fehlgeburten fehlt. Das Thema gehört, so wie Endometriose, HPV, unerfüllter Kinderwunsch und vieles mehr, in den schulischen Aufklärungsunterricht. Und wir brauchen eine Aufklärungskampagne, auf Social Media, mit Broschüren beim Frauenarzt. Das Wissen darüber, welche Entscheidungen bei einer Fehlgeburt auf sie zukommen könnten, brauchen die Frauen, bevor sie schwanger sind. Man kann nicht erst anfangen zu googeln, wenn man gerade erfahren hat, dass man sein Kind verliert.
taz: Welche Informationen sind das?
Sagorski: Jede Frau hat bei einer Fehlgeburt den Anspruch auf eine Begleitung durch eine Hebamme, das wissen die meisten nicht. In Deutschland werden sie bei einer Fehlgeburt oft ins Krankenhaus zu einer Ausschabung geschickt, obwohl das meist nicht nötig ist. Man kann abwarten oder mit Tabletten die „kleine Geburt“ einleiten, zu Hause oder in der Klinik. Das ist meist schonender für den Körper und ich glaube auch für die Seele. Jede Frau muss das für sich entscheiden. Aber dazu braucht man Informationen.
taz: Wie geht es jetzt weiter, nachdem Ihre Petition so erfolgreich war?
Sagorski: In den letzten drei Jahren hat es mich wütend gemacht, dass es richtig schwer ist, an den Spitzen der Politik Familienpolitik und Frauenthemen durchzuboxen. Wir brauchen eine bessere Lobby, deswegen vernetzen wir uns. Wir sind zwar nicht die größte Wählergruppe, aber die Zukunft. Und wir müssen die Demokratie verteidigen. Ich möchte nicht, dass meine Kinder unter einer Kanzlerin Alice Weidel aufwachsen.
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