Aktivistin über lesbische Sichtbarkeit: „Wir sind alle große Drama-Queens“
Stephanie Kuhnen hat gerade den Sammelband „Lesben raus“ herausgegeben. Ein Gespräch über queere Bündnisse, Rassismus und Alice Weidel.
Das Treffen mit Stephanie Kuhnen findet im Berliner Haus der Kulturen der Welt statt. Also genau an der Stelle, wo einst das von den Nazis zerstörte Institut für Sexualforschung von Magnus Hirschfeld gestanden hat. Auf der anderen Seite der Spree erinnert seit September ein Mahnmal an die „Erste deutsche Homosexuellenbewegung“. Nicht weit von hier, im Tiergarten, steht auch das Mahnmal für die ermordeten Homosexuellen im Nationalsozialismus.
taz am wochenende: Frau Kuhnen, Sie haben in Göttingen studiert. Darf man die Stadt als Lesbennest bezeichnen?
Stephanie Kuhnen: Ich glaube nicht mehr, aber in den Neunzigern war es so, ja.
Und gleich nebenan das Waldschlösschen, die schwule Akademie.
Da wurde ich quasi ausgebrütet. Ich bin gependelt zwischen Frauenlesbenzentrum und Waldschlösschen. Das ist ein Zuhause. Man kommt sich dort selbst so nah, man ist mitten im Wald und darf Rotz und Wasser heulen. Das ist ein Ort, an dem man die eigene Diskriminierung auch wirklich mal ernst nehmen und beweinen kann, anstatt sie immer nur zu verdrängen. Und: What happens in Waldschlösschen stays in Waldschlösschen.
Stimmt es, dass Sie in den USA geboren wurden?
Ich habe dort einen Teil meiner Kindheit verbracht, wurde aber in Deutschland geboren. Meine Eltern waren bei der Luftwaffe, als Kind habe ich viel Zeit auf Air-Force-Stützpunkten verbracht. Mein Vater war Pilot – er ist auch Phantom und Starfighter geflogen.
Hat er das überlebt?
Ja. Aber wenn Papa zu Hause verabschiedet wurde, wussten wir alle nicht, ob er wiederkommt.
Hatten Sie mal die Idee, selbst Pilotin bei der Bundeswehr zu werden?
Ich war doch ein Mädchen. Da war eh klar, dass das nichts wird. Das ist so wie mit der Homo-Ehe – ich wäre ja auch nie auf die Idee gekommen zu heiraten. Außerdem wäre ich für das Fliegen eh zu kurzsichtig gewesen.
Die Eltern beide Militärs, da war die Freude über Ihr Coming-out sicher groß . . .
Niemand in meiner Familie wäre auf die Idee gekommen wäre, dass ich heterosexuell sein könnte. Die Frage war also nur, wie ich meine Sichtbarkeit manage. Ob ich möglichst diskret bin oder alleinstehend tue oder ob ich eventuell einen schwulen Offizier heirate. Aber ich bin ein Kind der Achtziger! Heute unvorstellbar.
Ab wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie lesbisch sind?
Mensch Kuhnen, Jahrgang1969, lebt seit 1997 in Berlin. Von 2001 bis 2008 betrieb sie die Buchhandlung, „Lustwandel“, in Berlin-Prenzlauer Berg. Seitdem arbeitet sie als Journalistin und Fundraiserin. Von 2012 bis 2014 war sie Chefredakteurin des lesbischen Magazins L-MAG.
Werk Im Querverlag veröffentlichte sie u. a. „Butch/Femme. Eine erotische Kultur“ (1997, Hrsg.). Gerade neu erschienen ist „Lesben raus! – Für mehr lesbische Sichtbarkeit“ (Hrsg.).
Dass ich anders bin, das Gefühl hatte ich schon als Kind. Es gab natürlich keine Vorbilder. Aber ich weiß noch, dass ich sehr sauer war auf Rosi Mittermaier, als sie Christian Neureuther geheiratet hat.
Das Traumpaar des deutschen Wintersports. Sie waren in Rosi Mittermaier verknallt?
Ja. Ohne dass ich wusste, dass das schon Verknalltsein ist. Ein Bewusstsein für die Homosexualität habe ich erst über die Aids-Krise entwickelt, da war ich fünfzehn.
Tatsächlich?
Ich hatte mich gegenüber meinem besten heterosexuellen Freund geoutet – und der fragte mich: Verdammt, heißt das, du bist jetzt HIV-gefährdeter als andere? Aber Sex interessierte mich ja noch gar nicht. Ich wollte lesen und meine Ruhe haben. Trotzdem habe ich mich dann geoutet, aus Solidarität.
Schwule Männer standen Mitte der Achtziger unter starkem Druck, man warf ihnen vor, durch ihr „unverantwortliches Verhalten“ die Menschheit auszurotten.
Ich habe damals gesagt, wenn ihr die Schwulen mobbt, müsst ihr auch mich mobben. Wir haben auch Kondome an über sechzehnjährige Schülerinnen und Schüler verteilt, um über Aids zu informieren. Dafür wären wir fast alle von der Schule geflogen.
Nicht alle Lesben waren solidarisch.
Ich bin damals mit Solidaritätsgruppen zu Beerdigungen von Aids-Opfern gegangen, und immer wenn ich das bei den feministischen Lesbengruppen erzählt habe, fanden das die meisten nicht so prima. Da kamen zum Teil Sprüche, die ich sehr unfair fand – die Schwulen seien ja selber schuld, was müssen sie auch so viel Sex haben. Und diese Sexualfeindlichkeit in Teilen der Lesbenbewegung, das hat mich schon ganz schön erschüttert.
PorNO!
1986 ging das ja los mit PorNo und ich habe das als Teenager verfolgt, auch in der Emma. Die Menschenrechtsverletzungen im Rahmen der Prostitution, das hat mich natürlich empört. Aber dann war ich bei einer Podiumsdiskussion in Bonn, mit meinem PorNo-Aufkleber auf der Tasche, wo Feministinnen über Kunst geredet haben und über die Notwendigkeit eigener Darstellung weiblicher und auch lesbischer Sexualität. Ich fand, die hatten die besseren Argumente – und habe die Seiten gewechselt. In den Neunzigern habe ich dann viel Zeit mit sexpositivem Feminismus verbracht.
Und auf der anderen Seite war es lustiger?
Ja, da war es lustiger, das kann man sagen. Und da waren dann auch die Lesben, die mit den Schwulen gut auskamen.
In ihrem Buch „Lesben raus!“ ist der Ton gegenüber Schwulen zum Teil recht schroff. Birgit Bosold etwa schreibt, dass die schwul-lesbischen Bündnisse der Neunziger ein Fehler waren.
Birgit Bosold ist Vorständin des Schwulen Museums, das fand ich eine überraschende Position. Aber ich habe die Beiträge in dem Band nicht nach meiner Zustimmung ausgesucht.
Der Tenor ist, dass Lesben weiterhin unsichtbar und unbedeutend sind – viele Schwule erzählen die Geschichte aber anders: Die Lesben dominieren das Schwule Museum, das Zentralorgan Siegessäule, die „Sexualit_äten“-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum.
Eine interessante Perspektive. Aber in den Neunzigern gab es überall Frauen- und Lesbenzentren. Es gab eine riesige Infrastruktur, in jeder Stadt gab es entsprechende Kneipen und Buchläden. Es gab die Walpurgisdemos, die 8.-März-Demos – und in großen Städten gab es die Lesben-Sexshops. Alles weg, selbst aufgegeben.
Auch Sie hatten eine Buchhandlung?
Die ökonomischen Messwerte gingen immer weiter nach unten. Buchbranche. Und erotische Kunst und Kultur, die nicht Massenware ist, hat es da noch mal extraschwer, das ist eher ein Elitenthema.
Die Buchhandlung war doch im Prenzlauer Berg in Berlin?
Ja, am Anfang kamen viele Heteros. Poly- und Pansexuelle hießen die damals noch nicht, sondern „Swinger“ oder einfach „Lebemenschen“ oder „Conaisseure“. Eine bunte Mischung, aber irgendwann fing sich dann ein bestimmter Lebensstil an durchzusetzen. Wir sind auch angegangen worden. Da standen schwangere Muttis im Raum die behaupteten, wir hätten ihren Mann pornosüchtig gemacht. Und dann stiegen die Mieten.
Lässt die Gentrifizierung lesbische Infrastruktur verschwinden?
Ja, auch, aber vieles hat sich verändert mit der Datingkultur. Auf Partys und in Kneipen ist man ja gegangen, um mit Frauen zu flirten . . .
Ach, machen Lesben das jetzt auch alles über Apps?
Aber ja doch! Allerdings wir machen das ein bisschen anders als die Schwulen. Wir reden vorher mehr. Und der Punkt „Szene zwecklos“ spielt auch eine wichtige Rolle.
Was heißt „Szene zwecklos“?
Irgendwo hinzugehen, wo Exfreundinnen sein könnten. Man meidet bestimmte Orte, wenn man sich aufmacht, um Frauen kennenzulernen.
Die Schwulen sagen stattdessen: Whatever. Sex hatten wir ja schon, jetzt können wir ein Bier zusammen trinken.
Genau. Whatever! Diese sexuelle Kultur war bei Lesben nie so ein starker Bestandteil der Selbstermächtigung. Ich muss sagen, da bin ich wirklich neidisch. Ich hätte so gerne die erotischen Zeichnungen von Tom of Finland in Lesbisch!
Stimmt es denn, dass die Lesbenkneipen daran zugrunde gehen, dass Lesben nicht genug saufen?
Es gibt keine belastbaren Studien, wir wissen nichts. Es wird immer vermutet, dass Lesben ärmer seien als Schwule – aber auch das weiß man nicht, wie so vieles.
Ganz in der Nähe ist das Denkmal für die ermordeten Homosexuellen im NS. Die Diskussionen um dieses Mahnmal haben viele verletzt.
Das ist so. Es hat da einen Bruch gegeben und der wird immer wieder heruntergespielt. Zuletzt hat der Lesben- und Schwulenverband Alexander Zinn in das Gremium für Erinnerungskultur im KZ Ravensbrück gesetzt – also da jetzt zu behaupten, der LSVD würde lesbische Sichtbarkeit herstellen, das wäre wie eine Frauengesundheitskonferenz in Saudi-Arabien, totaler Quatsch. Diese Personalie, das haben die Lesben nicht vergessen.
Alexander Zinn, ehemaliger LSVD-Geschäftsführer, vertritt die Position, dass es keine strukturelle Verfolgung von Lesben im Dritten Reich gegeben habe. So kann man argumentieren. Auch Lesben waren im KZ, aber eben nicht aufgrund ihres Lesbischseins, sondern weil sie jüdisch waren oder kommunistisch oder „asozial“.
Die Frage ist, ob du dich nur auf einen Strafrechtsparagrafen kaprizierst, den 175. Dann, mal zynisch betrachtet, wäre der Rosa Winkel eine Art Gütesiegel für die Gedenkpolitik.
Mit dem „Rosa Winkel“ wurden Häftlinge in den KZs gekennzeichnet, die aufgrund ihrer Homosexualität dorthin verschleppt worden waren.
Ein Label, das für Lesben nicht funktioniert, übrigens auch nicht in anderen Verfolgerstaaten. Wenn Lesben unsichtbar bleiben, heiraten und Kinder kriegen, passiert ihnen auch nichts, ganz einfach. Immer wenn Lesben sichtbar wurden, gab es Probleme, dann wurden sie eben wegen Unzucht belangt oder wegen Prostitution.
Der Bundestagsbeschluss zur Errichtung des Mahnmals war ja ein anderer, da hieß es, dass das Mahnmal ein „beständiges Zeichen gegen Intoleranz, Feindseligkeit und Ausgrenzung gegenüber Schwulen und Lesben setzen“ soll.
Und da sieht man doch, dass man sich über die Lesben hinwegsetzten wollte. Ich muss sagen, ich bin auch sauer. Ich habe Zeitzeuginnen-Interviews geführt und viele Begegnungen mit lesbischen Frauen gehabt, die während des Nationalsozialismus unterdrückt worden sind. Und dann kommt ein Landesverband des LSVD und sendet ihren entlassenen Geschäftsführer in das Ravensbrück-Gremium, vom dem man weiß, welche Position er hat.
Es geht um einen Ort der Erinnerung in der Gedenkstätte Ravensbrück, einen Gedenkstein. Sind Sie noch Mitglied im LSVD?
Aber ja. Ich möchte mein Bündnis behalten – und mich streiten. Es gibt einen massiven Rechtsruck, und wir wären doch bescheuert, wenn jetzt nur noch ein Teil sichtbar wäre. In den Neunzigern ging es ja auch darum, gemeinsam sichtbar zu sein.
Und heute längst um andere Dinge: Antirassismus, Antifaschismus, Antiimperialismus, Lookismus, Israelkritik, Sexismus. Viele junge Queers definieren sich gar nicht mehr als Lesbe.
Ja, da sind wir wieder bei der Bezeichnungsfrage. Allerdings ist das ja nicht neu. Anfang der Neunziger gab es schon mal einen große Sichtbarkeitsdiskussion in der Lesbenbewegung – und da ging es um die Sichtbarkeit nichtweißer, nichtdeutscher Lesben und bisexueller Frauen
Dem Vernehmen nach hat diese Auseinandersetzung seinerzeit die Frauenszene komplett in die Luft gejagt.
Wer sich daran erinnern kann, zuckt eher mit den Schultern angesichts dessen, was heute teilweise an den Universitäten passiert oder was gerade noch mal in dem Sammelband „Beißreflexe“, herausgegeben von Patsy L’Amour La Love, thematisiert wurde. Von Trigger bis Intervention: Hatten wir alles schon.
Was war da los?
Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Die Antirassismusdiskussion, da war ich ja mittendrin. Ich hatte auch People-of-Color-Freunde – und die haben mich durchaus gegrillt. Ich fand mein Leben immer wahnsinnig multikulturell und hatte Rassismusvorwürfe weit von mir gewiesen. Ich habe dann auch immer gesagt: Hey, kommt doch einfach in die Gruppen, wo ist das Problem? Die waren dann natürlich stinkwütend – weil ich das Problem nicht sehen wollte.
Und das war?
Das ist jetzt gerade witzig, weil es das ist, was sich die Schwulen gerade von den Lesben anhören müssen. Die Schwulen stellen sich ja hin und sagen: Wieso, ihr könnt doch in den Vorstand kommen, wenn ihr wollt.
Ja, eben . . .
Aber so einfach ist das eben nicht. Wenn man immer nur die Einzige ist, kommt man eben irgendwann nicht mehr.
Weil niemand gerne Minderheit sein will?
Vor allem, wenn man nicht wertgeschätzt wird. Wenn man in Alltagsritualen nicht inkludiert wird – und nie mal ein Lob bekommt. Wenn immer nur eine Lesbe in einem Vorstand ist oder vielleicht auch mal zwei, dann steht sie da wie ein Symbol und nicht wie eine Person mit eigener Expertise. Das gibt sich niemand lange.
Dafür gibt es eine neue lesbische Spitzenpolitikerin: Alice Weidel!
Ja . . . Wenn wir für die homosexuelle Emanzipation kämpfen, kämpfen wir auch für Menschen, die wir nicht mögen.
Kommt Weidel auch bei Lesben gut an?
Ja, auch wenn mich das erschüttert. Und zwar wegen des Frauenthemas. Der Hintergrund ist, dass bestimmte Themen schon lange nicht mehr verhandelt werden: Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Raum zum Beispiel, das wird seit den Ereignissen auf der Kölner Domplatte nur noch über Rassismus transportiert.
Und wer nicht rassistisch sein möchte, kann bestimmte patriarchale Gewalt nicht mehr benennen.
Natürlich möchte man gerne das Problem benennen und dann lösen. Aber so wie die Debatte läuft, ist das schwierig.
Auch innerhalb der LGBTIQ*-Community führt das durchaus zu Spannungen.
Natürlich. Auch weil immer neue Buchstaben dazukommen – und dann muss alles wieder neu verhandelt werden, und der eine weiß nicht, was der andere tut.
Und es gibt Opferkonkurrenzen.
Vor allem Kämpfe um Ressourcen. Wer bekommt mehr Fördergelder, Transfrauen, Sexarbeiterinnen oder die Schöneberger Schwulen? Und was ist mit dem lesbischen Paar, das im Sommer in Berlin angegriffen wurde? Gewalt gegen lesbische Frauen ist sehr oft sexualisiert – es gibt keine lesbophobe Gewalt, also sprechen wir von homophober Gewalt. Und da denken alle nur an Schwule.
Wobei es in diesem Jahr auch gemeinsame Erfolge gab.
Großartig, ja! Die Entschädigung für den Paragrafen 175 und die Öffnung der Ehe. Und das bedeutet auch, dass Kapazitäten frei werden. Es ist nun wichtig, große Bündnisse einzugehen gegen den Rechtsruck und gegen die Entsolidarisierung.
Das Bündnis bleibt also?
Ja! Man kann auch mal Türen knallen und sich mit Förmchen bewerfen. Aber dann geht es weiter. Wenn es nicht alles so eine politische Ernsthaftigkeit hätte, könnte man das ja auch witzig finden. Wir sind schon alle große Drama-Queens.
Oh ja!
Fantastisch! Aber LGBTIQ*, das bedeutet für mich eine Solidargemeinschaft. Alle müssen also auch nach dem Buchstaben neben sich schauen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen