Afropunk-Festival in London: Es regnet Lippenbalsam
Beim Klassentreffen der Cool Kids feierte das Publikum sich selbst. Grace Jones siegte über identitätspolitisch beschränkte Diskussionen.
Die Organisatoren von Afropunk haben sich nicht lumpen lassen: Für den Londoner Ableger ihres Festivals, das am Samstag erstmals stattfand, haben sie den Alexandra Palace angemietet, einen prachtvollen, in viktorianischen Zeiten erbauten Veranstaltungsort auf einer grünen Anhöhe im Londoner Norden.
Am Nachmittag scheint die Sonne durch die Fenster in der Decke, die Atmosphäre ist wie in einer Schulaula. Was insofern passt, als es hier tatsächlich zugeht wie beim Klassentreffen – einem Klassentreffen von Cool Kids. Die Leute flanieren zwischen Ständen, an denen für Amnesty International und Fair-Trade-Kosmetik geworben wird. T-Shirts mit dem Aufdruck „Martina Luther Queen“ sind ein Verkaufsschlager. Viele haben sich in Schale geworfen. Es wird auf sympathische Weise gepost. Familienbande zu knüpfen zwischen Punks mit afroamerikanischem Wurzeln hatten auch die Festivalgründer James Spooner und Matthew Morgan im Sinn. 2003 erschien Spooners Dokumentarfilm „Afro-Punk“. Es ging um die Frage, welche Rolle Schwarze in der überwiegend weißen US-Punkszene spielten.
2005 fand erstmals das gleichnamige Festival in Brooklyn statt, mit gerade mal 100 Gästen. Es wuchs schnell. 2008 holte Morgan Jocelyn Cooper, A&R-Managerin bei Universal Records, ins Boot. Sein einstiger Mitstreiter wollte bei der „Gentrifizierung“ des Festivals nicht mitgehen und arbeitet mittlerweile als Tätowierer in Los Angeles. Auf dem Festival treten inzwischen auch HipHop- und Soul-Stars auf. Lauryn Hill war schon dabei, ebenso wie Lenny Kravitz und D’Angelo. Seit letztem Jahr müssen die Fans Eintritt zahlen. Ebenfalls 2015 brachten Morgan und Cooper das Festival erstmals nach Paris, auch Lateinamerika steht auf ihrer Liste.
Doch zurück nach London: Die Bands, die sich nachmittags im Alexandra Palace abrackern, tun sich ein bisschen schwer, ihr Publikum zu finden. An der Logistik liegt es nicht, alles ist gut organisiert, drei Bühnen sorgen dafür, dass es keine Pausen gibt. Trotzdem zerfasert der musikalische Aspekt etwas. Das Publikum ist vor allem hier, um sich selbst zu feiern. Noch mehr als auf anderen Festivals sind die Zuschauer der Star.
Ältere weiße Männer
Das Line-up ist eklektizistisch. Je härter und punkiger der Sound, desto mehr Luft hat man vor der Bühne. Punk scheint in Großbritannien doch eher ein Genre für ältere weiße Männer zu sein. Die jedenfalls stehen verlässlich vor der Bühne, wenn es krachig wird, und tragen mit Stolz eng gewordene T-Shirts, die von ihrer musikalischen Sozialisation erzählen.
Dass sich der Zuspruch für aggressivere Sounds in Grenzen hält, ist insofern schade, als einige der Band wirklich gut sind. Das Punk-Trio Youth Man aus Birmingham etwa hat mit Kaila Whyte eine Frontfrau, die mit ihrer drahtigen Tomboy-Energie den ganzen, ziemlich leeren Raum füllt. Das US-Hardcore-Rap-Duo Ho99o9 (ausgesprochen wird das „Horror“) schafft es immerhin, das spärliche Publikum in einen Circle Pit einzubinden. Alle rennen wie irre im Kreis, bis eine junge Frau stürzt und alle sich aufmerksam kümmern.
Viel Zuspruch gibt es für Lady Leshurr, die mit „Queen’s Speech“, ihrer auf YouTube durch die Decke gegangenen Freestyling-Serie, unter anderem über Lippen rappte, die wie „crizzpy bacon“ (knuspriger Speck) aussehen. Dementsprechend regnet es Lippenbalsam von der Bühne. MC Loyle Carner, mit seinem bekenntnishaften Old-School-Rap ein Hoffnungsträger des BritHop, trägt ein T-Shirt mit „I [love] Michelle Obama“ und hat eine so sympathische Bühnenpräsenz, dass man ihn sofort als kleinen Bruder haben will. Die Noisettes knacken das Publikum auf charmante Weise mit chartstauglichem, trotzdem leicht schrammeligem Retro-Soul.
M.I.A. wurde ausgeladen
Über den Headliner-Slot hatte es im Vorfeld Streit gegeben. Ursprünglich war die britisch-tamilische Sängerin M.I.A. gebucht, doch die hatte in einem Interview mit der rhetorischen Frage, ob eine Bewegung unter dem Banner „Muslim Lives Matter“ eine ähnliche mediale Aufmerksamkeit in der US-Öffentlichkeit bekommen könnte wie „Black Lives Matter“, für befremdetes Raunen an der Fanbasis gesorgt. Überhaupt, so die Einwände gegen das Booking, sei M.I.A. ja nicht schwarz und schon deshalb in dem geschützten Raum, der Afropunk sein will, fehl am Platz.
Hm, ob die afroamerikanische Erfahrung von Marginalisierung sich eins zu eins auf britische Verhältnisse übertragen lässt? Irgendwie verweist dieser Disput auch auf die Beschränkungen von Identitätspolitik. Kurzum, M.I.A wurde ausgeladen, den Slot übernahm, wie schon letztes Jahr in Brooklyn, Grace Jones.
Doch das alles ist vergessen, sobald die mit ihrer unglaublicher Präsenz den Raum füllt. Sie spielt sich durch ein Set mit hoher Hitdichte, den Auftakt macht die Bowie/Pop-Komposition „Nightclubbing“. Obwohl Grace Jones bis auf ein Korsett nackt, wenn auch eindrucksvoll bemalt ist, gibt es laufend Kostümwechsel. Dabei gibt sie sich zugänglicher und humorvoller, als man von dieser Ikone unterkühlter Artifizialität erwartet. Dem Publikum rät sie: „Put your phones away and put them in your pussy.“
Eher ironisch stimmt die Tochter eines jamaikanischen Predigers kurz vor Schluss für ein paar Takte das populäre Kirchenlied „Amazing Grace“ an. Doch die Ironie verpufft, denn amazing, das ist Grace Jones.
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