Afghanistan: Terror mit hoher Präzision
In Afghanistan eskaliert die Gewalt. Die Taliban können Anschläge mittlerweile kurzfristig und zielsicher ausführen. Zivile Strukturen drohen zu zerbrechen
DEHLI taz Über 200 Personen starben in den letzten fünf Tagen bei über einem Dutzend gewaltsamen "Zwischenfällen" in Afghanistan. Der Krieg gegen die Taliban wird immer härter, und die Bezeichnung "Zwischenfälle" verdeutlicht, dass die Statistik in diesem Krieg nicht mehr zwischen Attentaten und Militäraktionen unterscheidet. Zwar werden bei eigentlichen Kämpfen immer noch mehr Personen getötet; doch die Zahl von Suizidaktionen liegt inzwischen höher als die militärischer Gefechte, und auch die Opferzahlen beider Kampffelder gleichen sich immer mehr an.
Um ein Beispiel aus der südlichen Provinz Urusgan zu nennen: Gemäß einer Erklärung des Vorsitzenden des Provinzrats kamen dort zwischen Samstag und Montag 146 Menschen ums Leben - siebzig Taliban, sechzehn afghanische Sicherheitsbeamte und sechzig Zivilpersonen. Zu den Letzteren gehört eine Kategorie, die in der Statistik selten erwähnt wird: Dorfbewohner, die von Schergen der Taliban ermordet wurden, weil sie sich ihnen widersetzt hatten.
Drei Zwischenfälle der letzten Tage stechen ganz besonders hervor, da sie die zunehmende Ausweglosigkeit des neuen Afghanistan-Krieges verdeutlichen. Es sind die Selbstmordattentate am Samstag in Tirin Kot und am Sonntag in Kabul sowie der US-amerikanische Luftangriff gegen ein Al-Qaida-Versteck in der östlichen Provinz Paktika am Montag.
Am meisten Aufmerksamkeit erhielt zweifellos die Zerstörung eines Polizeibusses am Sonntagmorgen auf dem Gelände des Polizeihauptquartiers in der Sicherheitszone der Hauptstadt. Die 35 toten Polizisten und Zivilpersonen stellen nicht nur die höchste Opferzahl seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 dar. Das Selbstmordattentat demonstrierte zudem die Fähigkeit der islamistischen Extremisten, den Terror ins Herz des afghanischen Staatsapparates zu tragen. Es zeigte, dass sie ihr Exempel relativ kurzfristig statuieren können, fiel es doch mit der Ankunft zahlreicher europäischer Polizeiexperten und dem Beginn der EU-Polizeimission zusammen, einem Datum, das erst kurz zuvor bekannt geworden war. Neben der zeitlichen und lokalen Präzision erfüllten sich die Taliban damit zwei politische Ziele: Der Schlag gegen die Polizei war gegen ihren härtesten inländischen Gegner gerichtet; er sollte das "Marionettenregime" der Karsai-Regierung bloßstellen; und er war eine effektvolle Drohgebärde mit internationaler Reichweite, just zu Beginn des verstärkten internationalen Engagements im Zivilbereich des Landes.
Der Luftangriff, den US-amerikanische Kampfflugzeuge am Tag darauf gegen einen Gebäudekomplex in der Provinz Paktika südöstlich von Kabul flogen, erfolgte aufgrund von Informationen, wonach sich in dem Haus, dem eine Religionsschule und eine Moschee angegliedert waren, führende Al-Qaida-Kämpfer verbargen. Mehrere von ihnen sollen dabei ums Leben gekommen sein. Aber zu den Opfern gehörten wiederum auch Zivilpersonen, darunter sieben Kinder. Die US-Kommandostellen rechtfertigten den Angriff mit der Erklärung, die Schule sei zuvor leer gewesen; es sei die al-Qaida gewesen, die die Kinder ins Haus gezwungen habe, um sich hinter einem menschlichen Schutzschild zu verbergen. Kinder, die flüchten wollten, seien daran gehindert worden. Der Luftangriff geschah drei Tage nachdem die Nato in Brüssel beschlossen hatte, bei Militäraktionen mehr Sorge für Zivilpersonen zu tragen. Der einzige Unterschied zu früheren Kollateralschäden war, dass es diesmal die USA waren, welche als Erste von zivilen Opfern sprachen und ihrer Trauer darüber Ausdruck gaben. Doch der Ton der Erklärung war klar: In diesem Krieg sind Zivilopfer unvermeidbar, weil der Gegner seine militärische Unterlegenheit mit zivilen Geiseln kompensiert.
Diese Erfahrung machen nun auch die 1.800 niederländischen Soldaten der Isaf-Schutztruppe, die in Tirin Kot in der Provinz Urusgan - zwischen Kabul und Kandahar gelegen - stationiert sind. Im Gegensatz zu den Briten und Amerikanern verfolgten die Holländer dort bisher eine rein defensive Strategie: Sie gingen dem offenen Schlagabtausch mit dem Gegner aus dem Weg und brachten ihre Bewaffnung wenn immer möglich nur als Abschreckungsmittel zur Geltung, um sich und die Zivilbevölkerung abzuschirmen. Damit sollte ein Vertrauensklima geschaffen werden, in dem der wirtschaftliche Wiederaufbau angegangen werden kann. Es war der Truppe in den letzten Monaten gelungen, in einer Taliban-beherrschten ländlichen Region ein paar "Friedensnester" zu konsolidieren, darunter den Hauptort Tirin Kot.
Seitens der Amerikaner wurde diese Initiative unter der Hand belächelt - und sie scheinen Recht zu bekommen. Nicht nur ist die Zahl von Hinrichtungen von "Kollaborateuren" in dieser Provinz besonders stark gestiegen. Am Samstag explodierte in der Nähe eines Patrouillenfahrzeugs in Tirin Kot eine Autobombe, neun Zivilpersonen und ein niederländischer Soldat starben; fünf der Zivilisten waren Jungen, die sich - wie es Buben eben tun - in der Nähe des Panzerwagens aufgehalten hatten.
Auch vor diesem dritten Zwischenfall hatten die Taliban ihr Ziel offen gelegt. Einer ihrer Sprecher erklärte, nichts gegen die Bevölkerung zu haben, fügte aber warnend hinzu, dass sich diese von den fremden Besatzern fernhalten müsse. Die Bombe unterstrich diese Botschaft mit brutaler Deutlichkeit. Sie illustrierte aber auch, was die Taliban am meisten fürchten - den Wiederaufbau wirtschaftlicher und staatlicher Strukturen. Damit würden reale Werte geschaffen, die die Bevölkerung ermutigen könnten, sich gegen einen Gegner zur Wehr zu setzen, der als Alternative nur Angst und Hass verspricht. Das Attentat von Tirin Kot war ein Präzisionsschlag gegen die Strategie der Nato-Truppen, das Band zwischen ihr und der Bevölkerung zu stärken, mit dem diese Werte geschaffen werden sollen.
Eine Statistik des UNO-Hochkommissars für Flüchtlingsfragen zeigt, dass die Strategie bisher wenig Erfolg hatte, die Gegenstrategie dagegen sehr wohl. Nachdem Afghanistan nach 2001 die Zahl der Flüchtlingsrückkehrer angeführt hatte, kehrte sich das Bild 2006 wieder um. 2,1 Millionen Afghanen verließen letztes Jahr ihr Land. Damit steht dieses, wie zu Zeiten des Kriegs der Mudschaheddin vor zwanzig Jahren, erneut an der Weltspitze der Flüchtlingsländer.
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