Äußerungen von Österreichs Kanzler: Wie Nehammer arme Menschen sieht
Wer zu wenig Geld habe, solle mehr arbeiten, sagt Österreichs Kanzler. Seine grünen Koalitionspartner widersprechen kaum. Es hagelt Kritik.
„Wenn ich zu wenig Geld habe, gehe ich mehr arbeiten“, sagt Nehammer, nachdem er sich über die ihm zufolge zu niedrige Berufstätigkeit von Müttern beklagte. Diese würden immer noch zu viel in Teilzeit arbeiten, anstatt Vollzeit, wie er offenbar zum Ausdruck bringen wollte. Nehammer mokierte sich auch über seiner Meinung nach falsche Aussagen, dass Kinder aus armen Familien sich keine warmen Mahlzeiten leisten könnten.
„Was ist eigentlich mit den Eltern? Was heißt, ‚ein Kind kriegt keine warme Mahlzeit in Österreich‘?“ sagte der Bundeskanzler mit erhobenem Zeigefinger und süffisantem Unterton. „Wisst ihr, was die billigste warme Mahlzeit ist? Sie ist nicht gesund, aber sie ist billig. Ein Hamburger beim McDonalds. Ein Hamburger kostet 1,40 Euro, mit Pommes dazu 3,50 Euro. Und jetzt behauptet wirklich einer ernsthaft, wir leben in einem Land, wo sich Eltern kein Essen für Kinder leisten können.“
Kritisch äußerte sich Nehammer auch über die Sozialpartnerschaft, also den seit Jahrzehnten etablierten Interessensausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die Sozialpartnerschaft würde aber alle Reformen blockieren, sagt Nehammer etwas kryptisch: „Über all das darf ich mich eigentlich gar nicht unterhalten. Warum? Weil da kommt die Gewerkschaft daher und die Wirtschaftskammer daher und sagt: Hee. Putz di. Sozialpartnerschaft. Putz di.“ (Österreichisch für „Hau ab“, Anm. d. Red.)
Schon wieder ein brisantes Video aus Österreich
Das Video entstand bei der Eröffnung einer Vinothek am 26. Juli in der Salzburger Kleinstadt Hallein vor ÖVP-Funktionären, die um Nehammer gruppiert stehen. Auch die Kanzleramts- und Verfassungsministerin Karoline Edtstadler war bei dem Termin zugegen. „Ein informatives Treffen in gemütlicher Atmosphäre“ nannte es tags darauf die ÖVP Hallein auf Facebook. Diesen Mittwoch wurden die problematischen Aussagen des Kanzlers öffentlich, gefolgt von breiter Kritik aller österreichischen Parlamentsparteien.
„Die Menschen in Österreich haben sich einen Kanzler verdient, der sie respektiert“, sagte SPÖ-Bundesparteivorsitzender Andreas Babler. Nehammer, der 23.000 Euro pro Monat verdient, solle sich „darum kümmern, dass die Leute sich die Mieten und die Preise im Supermarkt wieder leisten können, statt in einer noblen Weinbar bei Käsehäppchen darüber zu philosophieren, was man den Leuten als Nächstes wegnehmen könnte“.
Als „empathielos, menschenverachtend und abgehoben“ bezeichnete ihn FPÖ-Bundesparteiobmann Herbert Kickl. Nehammer sei „für den Job als Bundeskanzler ungeeignet“. Kritik kam auch von Nehammers Koalitionspartner, den Grünen. „Menschen in Not auszurichten, sie seien selbst schuld oder sollen ihren Kindern Fast Food servieren, ist zynisch“, kommentierte der grüne Gesundheits- und Sozialminister Johannes Rauch.
Konkrete Forderungen nach Konsequenzen kamen von den Grünen nicht, auch Vizekanzler Werner Kogler lavierte um eine klare Verurteilung der Aussagen herum. Eine taz-Anfrage an ihn blieb unbeantwortet.
„Österreich geht mit Armut um, als gäbe es sie nicht“
Auch von Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der sich in vergleichbaren Fällen (etwa sein berühmtes „So sind wir nicht“ anlässlich des Ibizavideos) an die Öffentlichkeit wandte, gab es am Donnerstag keinen Kommentar.
Zahlreiche Vertreter von Hilfsorganisationen äußerten sich empört. „In Österreich muss niemand verhungern oder im Winter erfrieren. Weil wir in der Geburtsortslotterie einen Haupttreffer gezogen haben. Aber wer sagt, dass in Österreich niemand hungert oder friert, hat von der Wirklichkeit der Menschen keine Ahnung“, sagte Michael Landau, Generalsekretär der Caritas Österreich.
„Österreich geht mit Armut um, als gäbe es sie nicht. Nicht darüber sprechen. Sie kleinreden, als unwichtig abtun. So schlimm ist das alles nicht, sollen sich mal nicht so anstellen. Nehammers Video reiht sich hier gut ein. Das ist der eigentliche Skandal“, schrieb Barbara Blaha vom gewerkschaftsnahen Thinktank Momentum Institut.
In Österreich gibt es laut Statistik Austria 201.000 „besonders stark von Armut betroffene“ Menschen, 40.000 mehr als im Vorjahr, wie es von der Caritas heißt. Eine taz-Anfrage zu Nehammers Aussagen ließen Bundeskanzleramt und ÖVP unbeantwortet.
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