Abwehr von Flüchtlingen: Wie Tunesien für Europa die Drecksarbeit macht
Zu Tausenden werden afrikanische Migranten gewaltsam an der Reise nach Europa gehindert und stattdessen nach Algerien gekarrt. Die EU begrüßt es.

Nach Schätzungen tunesischer Menschenrechtsaktivisten leben bis zu 100.000 Westafrikaner und Sudanesen als Flüchtlinge in Tunesien. Bis zu einer Rede von Präsident Kais Saied im Februar 2023, in der er die afrikanischen Migrant:innen als Teil einer Verschwörung gegen die arabische Identität Nordafrikas bezeichnete, waren viele als Tagelöhner in Cafés oder in der Landwirtschaft beschäftigt. Doch heute dürfen Tunesier „die Afrikaner“ weder anstellen noch an sie Wohnungen vermieten. Ihnen bleibt nur noch die Flucht nach vorn – Richtung Europa.
„Da ich in Sierra Leone weder die Aussicht auf Arbeit habe, noch ein sicheres Leben führen kann, warte ich auf die Gelegenheit, nach Europa zu gelangen“, sagt Abubakr Bangura, der zusammen mit acht Landsleuten in einem Zelt lebt. Fünfmal wurde der 28-Jährige zusammen mit seiner Frau und seiner 3-jährigen Tochter von der tunesischen Nationalgarde aus einem schrottreifen Metallboot auf dem Mittelmeer geholt. „Wir sind während der Polizeirazzien einfach tiefer in die Olivenhaine geflohen“, sagt Bangura und bekräftigt seinen Plan, die Überfahrt nach Lampedusa so oft zu wagen, bis es klappt.
Er hat Glück, dass er die „Rettung“ auf hoher See überlebt hat. Mehrere Gerettete berichten der taz, dass die Besatzungen der tunesischen Patrouillenboote die Außenbordmotoren der mit bis zu 45 Menschen beladenen 8-Meter-Boote gleich bei ihrem Auffinden konfiszieren, aber die Insassen erst nach Stunden des bangen Wartens wieder an Land bringen.
Zurück an die algerische Grenze
„Die Frauen und Kinder wurden im Hafen von Sfax ausgeladen“, sagt Keba, ein 21-jähriger Senegalese, am Telefon über eine solche Aktion. „Die Männer an Bord mussten die letzten Kilometer schwimmen.“ Ob alle an Bord es bis zum rettenden Ufer schafften, weiß er nicht. Im Hafen von Sfax wurden die Geretteten in Busse verladen und an die algerische Grenze gefahren.
„Im Niemandsland nahe der Stadt Tebessa lauerten uns bewaffnete Männer auf.“ Die Unbekannten übergaben Keba und seine Gruppe in einem Waldstück nahe der Grenze zu Tunesien an die algerische Armee, von dort dann ging es weiter in die Wüstenstadt Assamaka in Niger. Heute lebt Keba in der Stadt Agadez in einem Auffanglager der UN-Migrationsorganisation IOM (Internationale Organisation für Migration), aus dem heraus er der taz von seinem Schicksal berichtet.
„Viele der aus den Camps bei Sfax Deportierten irren im Grenzgebiet herum, ohne Geld, Lebensmittel oder ausreichend Wasser“, berichtet Ibrahim Foufana, ein Arzt aus Sierra Leone, der in mehreren Camps provisorische Feldkliniken aufgebaut hat. „Doch nach mehreren Wochen kommen sie über Agadez oder die Schleichpfade an der algerischen Grenze wieder zurück.“ Das Freiwilligenteam des 28-Jährigen behandelt Verletzungen, die sich die Camp-Bewohner bei den Gewaltmärschen und Räumungsaktionen zugezogen haben.
Da weder tunesische Hilfsorganisationen, IOM oder das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR der Vereinten Nationen Zugang haben, sterben jede Woche Patienten an Infektionen oder Schwäche. „Selbst für die Behandlung von Platzwunden durch Schlagstöcke haben wir nicht genügend Verbandsmaterial oder Desinfektionsmittel“, sagt Foufana, „wir erhalten Lebensmittelspenden von tunesischen Nachbarn und halten als Gemeinschaft eng zusammen. Obwohl hier Menschen aus zwölf Ländern zusammenleben, ohne Hilfe von außen.“
Inhumane Lage in Camps
Die zähe Selbstorganisation der Migrant:innen durchkreuzt die zwischen Brüssel und Tunis koordinierte Abschreckungsstrategie. Nur die inhumane Lage in den Camps würde weitere Menschen davon abhalten, sich aus Westafrika nach Europa auf den Weg zu machen, so ein EU-Diplomat gegenüber der taz im vergangenen Herbst. Italiens Innenminister Matteo Piantedosi bezeichnete die Kooperation mit Tunesien und Libyen noch Anfang April als Erfolgsmodell.
Doch in der letzten Aprilwoche kamen 1.800 Menschen per Boot aus Tunesien auf Lampedusa an, im gesamten Monat ist die Zahl im Vergleich zum Vorjahr um 30 Prozent gestiegen. Ibrahim Foufana hat eine einfache Erklärung dafür: „Die tagtäglichen Gefahren in ihrer Heimat sind abschreckender als das, was sie auf der Reise nach Europa erleben. Ich verstehe nicht, warum man uns nicht zumindest wie Menschen behandelt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
+++ Liveticker zur Kanzlerwahl +++
Friedrich Merz doch noch Kanzler
Diskussion um AfD-Verbot
10 Millionen WählerInnen lassen sich nicht wegzaubern
Israels Pläne für Gaza
Es hängt an Netanjahu
Bundeskanzler in spe
Friedrich und sein Naziopa
Neuer Umweltminister
Qualifikation? Egal
Fernwärme
Heizende doppelt benachteiligt