Abwanderung der Deutschtürken: Braindrain nach Istanbul
Jeder dritte türkischstämmige Akademiker denkt darüber nach, in die Türkei zu gehen. Zu den Abwanderern gehören vor allem Ingenieure und Mediziner.
BERLIN taz | "Beabsichtigen Sie, zukünftig in die Türkei zu ziehen?" Diese Frage hat das Krefelder Forschungsinstitut "Futureorg" bundesweit 254 Studierenden und AkademikerInnen türkischer Herkunft gestellt. 36 Prozent, mehr als ein Drittel der Befragten also, antworteten mit Ja.
Der am häufigsten genannte Grund für die hohe Abwanderungsbereitschaft liegt dabei nicht in der schlechten Arbeitsmarktsituation, von der besonders ZuwanderInnen in Deutschland betroffen sind. Auch Einkommen oder Familienstand haben nur einen geringen Einfluss.
Vier von zehn Befragten geben stattdessen das "fehlende Heimatgefühl" in Deutschland als Ursache für ihre Auswanderungspläne an. Vor allem Männer scheint das zu belasten: Jeder Zweite von ihnen möchte deshalb lieber hier weg. Besonders unter Naturwissenschaftlern, Medizinern und Ingenieuren ist der Auswanderungswille stark.
Ob solche Pläne realisiert werden, hält Kamuran Sezer vom Institut Futureorg, der die Studie am Montag in Berlin vorstellte, beinahe für nebensächlich: Es handele sich in jedem Fall um eine "mentale Abwanderung", so Sezer. Die Studie zeige, dass auch hoch qualifizierten jüngeren türkischen ZuwanderInnen die Identifikation mit Deutschland schwerfalle. Zwar geben 43 Prozent der Befragten an, in Deutschland zu Hause zu sein, doch als Heimat möchte nur ein knappes Drittel das Land bezeichnen. Die Türkei verstehen mehr als ihre Heimat.
Dass der Abwanderungsgedanke, der auch von der ersten Einwanderergeneration lange gepflegt wurde, von den Eltern auf die Kinder übertragen wurde, liegt nahe. Die Studie weist einen Zusammenhang zwischen dem Auswanderungswillen der Jüngeren und dem Verhältnis der Eltern zu deren neuer Heimat nach.
Junge Akademiker, deren Eltern mit dem Leben in Deutschland zufrieden sind, planen nur zu knapp einem Drittel einen Umzug in die Türkei. Unter denen, deren Eltern das Leben in Deutschland nicht mögen, hat dagegen fast jeder Zweite Abwanderungspläne.
Und auch die Staatsbürgerschaft spielt eine Rolle: Sind die Eltern türkische Staatsbürger, liegt der Anteil der auswanderungswilligenKinder bei 40 Prozent. Nur halb so viele der Kinder, deren Eltern deutsche Staatsbürger sind, denken dagegen noch an eine Übersiedlung.
Serdar Yazar, Vorsitzender des Bundesverbandes Türkischer Studierendenvereine, kennt das Schwanken zwischen Bleiben und Gehen. Yazar, 26, ist geborener Berliner: "Ich hänge an Berlin", sagt der Student der Politikwissenschaften bei der Präsentation der Studie.
Doch MigrantInnen trügen den Gedanken an die Herkunftsländer immer mit sich, offenbar auch in der zweiten Generation, das zeigten viele Studien, so der Sohn türkischer Einwanderer. "Dabei können wir aufgrund der Studie keine Aussage darüber machen, ob es sich um eine endgültige Auswanderung oder vielleicht nur einen vorübergehenden Auslandsaufenthalt handeln würde", so Yazar.
Es könne ja auch sein, dass Migrantenkinder einfacher mobiler seien. Einen Hinweis darauf liefert die Studie: Auch unter den Befragten, die angeben, sich in Deutschland und in der Türkei gleichermaßen zu Hause zu fühlen, hegt fast jeder Zweite den Gedanken, in die Türkei auszuwandern.
Doch es gibt auch Hinweise, die in andere Richtungen deuten: Denn es sind gerade die in der Studie als besonders "karriereorientiert" beschriebenen AkademikerInnen, die Deutschland verlassen wollen. Der Grund: Sie halten ihre beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten hier für schlecht.
Serdar Yazar, der auch im Antidiskriminierungsnetzwerk des Türkischen Bundes Berlin arbeitet, hält deshalb auch Reaktionen auf die Studienergebnisse für notwendig. "Dass gut Qualifizierte mobil sind, ist normal", so Serdar. Wenn sie es aber aufgrund von Diskriminierung sein müssten, sollte Deutschland etwas gegen die Ursachen des Braindrains unternehmen: "Diese Abwanderung ist ein Verlust für unsere Gesellschaft", so Yazar.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Elon Musk torpediert Haushaltseinigung
Schützt die Demokratien vor den Superreichen!
Pro und Contra Letzte Generation
Ist die Letzte Generation gescheitert?
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht macht BND für Irrtum verantwortlich
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?
Studie zum Tempolimit
Es könnte so einfach sein