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Abschluss der 75. BerlinaleFür das Leben träumen

Die Berlinale 2025 ging mit dem verdienten Goldenen Bären für den Film „Drømmer“ von Dag Johan Haugerud zu Ende. Doch die Bilanz fällt gemischt aus.

Große Freude: Der norwegfsche Regisseur Dag Johan Haugerud am Samstag mit dem Goldenen Bären in Berlin Foto: copyright Dirk Michael Deckbar/Berlinale 2025

Manchmal sind die Dinge ganz einfach. Etwa, dass der beste Film im Wettbewerb eines Filmfestivals den Hauptpreis bekommt, wie es sich gehört. Bei „Drømmer“ von Dag Johan Haugerud, der am Sonnabend bei der Berlinale den Goldenen Bären gewann, ist das der Fall. Mit einem Film, der ohne Drastik, aufdringliches Muskelspiel oder andere Gimmicks sehr elegant und vermeintlich schlicht eine komplexe Geschichte erzählt, die ganz gegenwärtig ist und zugleich etwas Klassisches hat.

Johanne (Ella Øverbye), die Hauptfigur, ist eine Gymnasiastin in Oslo. Sie besucht nach der Schule Tanzklassen, eine ganz normale Schülerin in einem bürgerlichen Umfeld. Mit der Vertretungslehrerin Johanna (Selome Emnetu), die Textilkünstlerin ist, erwacht nicht bloß Johannes Interesse am Stricken, sondern auch ihre erste Liebe.

Eine Liebe, die sie zunächst nicht richtig zuordnen kann, die sie aber immer mehr beherrscht. Johanna gegenüber offenbart sie sich nicht, beginnt sich aber nach dem Unterricht privat bei ihr zu treffen. Bis Johanna den außerschulischen Umgang mit ihr beendet.

Geschichte aufschreiben

Die eigentliche Geschichte des Films beginnt, als Johanne ein Buch über ihre Erfahrung schreibt, für sich. Der Großmutter, die Dichterin ist, zeigt sie es bald auch, und diese zeigt es Johannes Mutter. Und plötzlich hat Haugerud den Schwerpunkt seines Erzählens verschoben oder vielmehr den Fokus erst richtig scharfgestellt. Denn von nun an ist das Schreiben als Erfahrung das Thema des Films. Hineingeflochten sind die unterschiedlichen Vorstellungen der drei Frauengenerationen von Sexualität und Emanzipation.

Berlinale- Preise 2025

Goldener Bär für den besten Film: „Drømmer“, Regie: Dag Johan Haugerud

Silberner Bär Großer Preis der Jury: „O último azul“, Regie: Gabriel Mascaro

Silberner Bär Preis der Jury: „El mensaje“ Regie: Iván Fund

Silberner Bär für die beste Regie: Huo Meng für „Sheng xi zhi di“

Silberner Bär für die beste Hauptrolle: Rose Byrne in „If I Had Legs I'd Kick You“, Regie: Mary Bronstein

Silberner Bär für die beste Nebenrolle: Andrew Scott in „Blue Moon“, Regie: Richard Linklater)

Silberner Bär für das beste Drehbuch: Radu Jude für „Kontinental ’25“

Silberner Bär für eine herausragende künstlerische Leistung: Das kreative Ensemble von „La Tour de Glace“, Regie: Lucile Hadžihalilović

Mit „Drømmer“ schließt Dag Johan Haugerud seine im vergangenen Jahr mit dem gleichfalls auf der Berlinale gezeigten „Sex“ begonnene Trilogie über die Liebe ab. „Love“, der zweite Teil, lief danach in Venedig im Wettbewerb. In „Drømmer“ gibt sich Haugerud, der selbst auch Schriftsteller und Drehbuchautor ist, künstlerisch am direktesten selbst zu erkennen.

Die aus dem Off gesprochenen Erinnerungen Johannes gehören völlig selbstverständlich zu diesem künstlerischen Ansatz. Haugeruds Plädoyer, das Leben ins Fiktive oder zumindest Literarische zu erweitern, nötigt das Publikum sanft mit sehr guten Argumenten. Reicher wird das Leben in jedem Fall, selbst wenn das mitunter seinen Preis hat.

Unerwartete Ehrung

Betrachtet man allein diese Auszeichnung der 75. Ausgabe der Internationalen Filmfestspiele von Berlin, gibt es wenig bis gar keinen Anlass, sich um den Stand des Erzählkinos zu sorgen. Krise? Nein. Wobei das vor allem eine Frage der Per­spek­tive ist. Auch in anderer Hinsicht wurden einige gelungene Filme von der Jury unter dem Vorsitz des Regisseurs Todd Haynes gewürdigt. Der Große Preis der Jury für den brasilianischen Film „O último azul“ (The Blue Trail) von Gabriel Mascaro jedenfalls ist eine unerwartete Ehrung für einen der entspanntesten Filme dieses Wettbewerbs.

In dieser Zukunftskomödie muss die 77-jährige Arbeiterin Tereza (Denise Weinberg) altersbedingt ihre Arbeit aufgeben, obwohl sie gesund und motiviert ist. Eine Regierungsinitiative zwingt sie dazu, ihre nächste Station ist „die Kolonie“. Aus Angst, von dort nicht mehr zurückzukommen, unternimmt sie eine Reise auf dem Amazonas, wo sie Zufallsbekanntschaften mit freigeistigen Außenseitern macht. Ein „Rivermovie“, wenn man so möchte, das im Rhythmus der Biegungen des Flusses fließt.

Ein klassisches Roadmovie hingegen ist „El mensaje“ (The Message) von Iván Fund, der den Preis der Jury erhielt. Diese Reise eines Mädchens, das mit seinen Großeltern im kargen Wohnmobil durch die weiten Landschaften Argentiniens reist, um seine Dienste als Tierkommunikatorin anzubieten, war ebenfalls sehr zurückgenommen im Tempo. In seiner positiv gedachten Botschaft sicher gut gemeint, enthielt er dafür signifikant hohe Anteile von Belanglosigkeit. Warum der Film überhaupt im Wettbewerb landete, bleibt eher ein Rätsel.

Gewusel einer Großfamilie

Mit vielen Filmen in diesem Jahrgang kann man dennoch zufrieden sein, wenngleich nicht im euphorischen Sinn. So ging der Silberne Bär für die beste Regie verdient an Huo Meng und seinen chinesischen Beitrag „Sheng xi zhi di“ (Living the Land) über die Transformation des ländlichen Chinas zu Beginn der neunziger Jahre. Kunstvoll wirft er einen in das Gewusel einer Großfamilie, wählt genau aus, was er zeigt und was nicht, wann die Kamera nah bei den Protagonisten ist und wann sie auf Distanz geht.

Ebenfalls angemessen der Silberne Bär für die beste schauspielerische Leistung, den Rose Byrne für ihre Hauptrolle in „If I Had Legs I’d Kick You“ von Mary Bronstein gewann. Bronsteins Horrorkomödie über den Albtraum der Therapeutin Linda, die von der Sorge um ihre kranke Tochter gefangen ist, mag in der Tonlage ein Beispiel für ein genreaffines Arthousekino sein, dass in seinen Mitteln die Regler absichtlich bis zum Anschlag hochreißt und dabei ein Dauerunwohlsein erzeugt, das keine richtige Entwicklung kennt und darin auf Dauer ermüdet. Ungeachtet dessen zeigen sich die Qualitäten des Spiels von Byrne in den ruhigen Szenen, wenn Linda bei ihrem eigenen Therapeuten (Conan O’Brien) auf der Couch liegt.

Neben diesen erfreulichen Preisen gab es diverse zu vernachlässigende Kandidaten. Besonders enttäuschend die aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln erzählten Familienfilme von Rebecca Lenkiewicz und Johanna Moder, Erstere war mit dem unterwältigenden Mutter-Tochter-Drama „Hot Milk“ angetreten, Letztere mit dem Reproduktionsmedizingrusel „Mother’s Baby“. Ameer Fakher Eldins „Yunan“ mit Hanna Schygulla als Pensionswirtin auf der Hallig Langeneß wiederum war in erster Linie für seine Inszenierung einer Sturmflut auf der Marschinsel bemerkenswert, weniger für seine diffuse Exilgeschichte.

Ein Kessel Buntes, genügend Highlights

Die neue Intendantin Tricia Tuttle hat damit einen für die Berlinale nicht untypischen Wettbewerb zusammengestellt, der als Kessel Buntes im Ergebnis genügend Höhepunkte lieferte, um nicht sonderlich zu enttäuschen. Weniger überzeugend fällt die Bilanz bei dem von Tuttle neu eingeführten Nebenwettbewerb „Perspec­tives“ aus. Dessen Konstruktion birgt eine erwartbare Schwierigkeit, ist er doch Spielfilmdebüts vorbehalten.

Dass sich darunter nicht ausschließlich Meisterwerke finden, belegt etwa die Entscheidung für den Preis für das beste Spielfilmdebüt: „El Diablo Fuma (y guarda las cabezas de los cerillos quemados en la misma caja)“ (The Devil Smokes (and Saves the Burnt Matches in the Same Box)) des mexikanischen Regisseurs Ernesto Martínez Bucio beobachtet eine kaputte Familie, in der die Kinder mit ihrer paranoiden Großmutter von den Eltern alleingelassen werden. Dabei lässt er die Möglichkeiten seines Stoffs weitgehend ungenutzt. Auch andere Debüts ließen keine markante Handschrift erkennen. Womöglich lohnt es sich, das Konzept dieser Sektion zu überdenken.

Auch in anderer Hinsicht gibt es Nachholbedarf. Nachdem im vergangenen Jahr das Thema Antisemitismus für einen Eklat bei der Abschlussgala gesorgt hatte, verlief diese Berlinale oberflächlich betrachtet weniger skandalträchtig. Gleichwohl gibt es Anzeichen, dass das Festival bei seiner Haltung keinesfalls so neutral und ausgeglichen ist, wie es sich nach außen gibt.

Politische Kontroversen abbilden

Sicherlich ist es ein gutes Zeichen, dass zwei Dokumentarfilme, Tom Shovals „A Letter to David“ und „Holding Liat“ von Brendon Kramer, sich mit israelischen Geiseln beschäftigen, die am 7. Oktober 2023 von der Hamas verschleppt wurden. Am Ende ging der Berlinale Dokumentarfilmpreis an „Holding Liat“, der im Unterschied zu Shovals Film vor allem politische Kontroversen innerhalb Israels abbildet.

Man kann wiederum loben, dass die Moderatorin der Berlinale-Abschlussgala, Désirée Nosbusch, bei der Preisverleihung an das Opfer des mutmaßlich antisemitisch motivierten Angriffs am Berliner Holocaust-Mahnmal vom Freitag erinnerte. Jedoch hat es einen Beigeschmack, dass sich das Festival auf seiner Website veranlasst sieht, unter den FAQ, den häufig gestellten Fragen, die „Antisemitismus-Resolution“ des Bundestags unter Verweis auf die Meinungsfreiheit als für sich nicht bindend abzulehnen.

Dazu passt, dass der Regisseur Jun Li bei der Premiere seines Films „Queerpanorama“ einen Brief des Darstellers Erfan Shekarriz verlas, in dem laut Presseberichten Wendungen wie die Parole „From the river to the sea …“ und Kritik am „Siedlerkolonialismus Israels“ vorkamen. Vom öffentlichen Lob der antiisraelischen BDS-Kampagne aus dem Munde der mit dem Ehrenbären ausgezeichneten Schauspielerin Tilda Swinton ganz zu schweigen.

Wenn das Festival bei diesem Verständnis von Meinungsfreiheit bleibt, muss es sich weiter den Vorwurf gefallen lassen, dass es nicht genug tut, um seine Verlautbarung „Die Berlinale hat keinerlei Toleranz für Antisemitismus“ glaubhaft erscheinen zu lassen.

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