Abschied von Torwart-Tier Kahn: Der war haltbar!

Wie kommt es, dass die Deutschen ihre Torhüter abgöttisch lieben, und warum gerade Oliver Kahn, der am Samstag zum letzten Spiel seiner Karriere antritt?

Wachhund vor dem Tor: Oliver Kahn Bild: dpa

Und das war sein Terrain: Hinter ihm ein Kasten, 7,32 Meter breit und 2,44 Meter hoch. Ergibt eine Fläche von 17,8 Quadratmetern, die Oliver Kahn zu beschützen hatte. Der Ball passt 358-mal auf diese Fläche. 358-mal. Wer schon einmal in einem Tor gestanden hat, kann ermessen, wie riesig so ein Ding eigentlich ist. Vor Kahn lag der Fünfmeterraum, eine Schutzzone, die er zu verteidigen wusste wie kein Zweiter, mit Zähnen und Klauen. Stürmer packte er hier am Schlafittchen oder knabberte ihnen auf seinem Hoheitsgebiet am Ohr. Das hatte etwas von einem Wachhund, der, an die Kette gelegt, sein Gebiet kläffend zu verteidigen weiß. Kahns Radius ging kaum weiter, bis an die Kreidelinien des 16-Meter-Raumes.

"Der eingeschränkte Aktionsraum ist vergleichbar mit einer Normzelle in einem Gefängnis", hat er einmal in seiner Autobiografie "Nummer eins" geschrieben. Klar, er konnte sich nicht bewegen, wie er wollte, aber dafür war er privilegiert. Als Schlussmann durfte er den Ball in die Hände nehmen. Alleinstellungsmerkmal nennt man das. Torhüter sind dadurch Individualisten in einer Mannschaft, Einzelkämpfer im Kollektiv. Aber Kahn war noch mehr, Kahn hat sich zum Superverteidiger und Megaverhinderer stilisiert. Am liebsten hätte er magnetische Pranken gehabt, Handschuhe mit Sogwirkung, die den Ball anziehen. In mentalen Übungen wird so etwas tatsächlich geprobt. Drei Hundertprozentige wollte er pro Spiel halten, nichts reinlassen. Er war der Zwangsneurotiker, der das Tor hütete.

Der Politiker Helmut Kohl wollte immer wissen, was hinten rauskommt. Der Torwart Kahn wollte stets verhindern, dass hinten was reinkommt. Beide waren in gewissem Sinne Ästheten des Analen. Kohl erleichterte sich bisweilen im politischen Geschäft. Der besessene Torwart aus Karlsruhe musste indessen immer dichthalten und wurde so peu à peu zum Helden der Masse. Zum Titan. Zum Samurai. Zum Kahnsinnigen. Zu King Kahn. Jetzt lieben ihn die Deutschen, und es liegt nahe, im Land der Gartenzäune und doppelten Sicherheitsschlösser eine Verbindung zu einer allgemeinen Einstellung herzustellen.

Die Deutschen sind seit Toni Turek - "Toni, Toni, du bist ein Fußballgott! - hingerissen von ihren Torhütern. Weil der leichtfüßige Goalgetter über Jahrzehnte ein eher mickriges Dasein in der Liga fristete, wurden Keeper zu Ikonen: Sepp Maier, Toni Schumacher, Hans Tilkowski, Bert Trautmann, Jürgen Croy, Andreas Köpke, Heiner Stuhlfauth und natürlich auch Jens Lehmann. Mit Spott wurden Nationen bedacht, die "Fliegenfänger" hinten reinstellten, lächerliche Figuren, die Engländer zum Beispiel mit David Seaman und Paul Robinson, den "Reitern der Apokalypse" (11 Freunde), oder die Afrikaner. Gern auch die Auswahl Brasiliens. Die hatten zwar die begnadeten Seidenfüße in ihren Reihen, die Deutschen aber den bärbeißigen Handarbeiter, der, wenn es hart auf hart kommt, nicht davor zurückschreckt, einen Angreifer böse über den Haufen zu rennen. Was Schumacher konnte, konnte Kahn schon längst, denkt man an seine Kung-Fu-Einlage, die Tim Wiese unlängst noch einmal nachspielte.

Das Taxieren und Analysieren der Keeper ist zu einer Volksbeschäftigungsbewegung geworden. Es werden Top-Ten-Listen angelegt, Paraden archiviert und ins Internet gestellt, sodass ganze Galerien der Torwartkunst draus werden. Doch das ist nichts gegen jene Debatte, die sich im Vorfeld der Weltmeisterschaft entsponnen hatte: die Kahn-Lehmann-Debatte. Mit Inbrunst und größtem Ernst wurde das Für und Wider abgewogen, es wurden diverse Szenarien vom Torwart als Libero entworfen und heilige Eide auf den jeweiligen Liebling geschworen. Oliver Kahn war schließlich der Unterlegene im Duell der deutschen Großkeeper. Das war zu verschmerzen, schließlich empfing der Torwart Weihen vom deutschen Feuilleton. In Albert Ostermaiers "Ode an Kahn" wird der Keeper zum "Flash Gordon der Strafräume", seine Arme sind wie Skylla und Charybdis, Kahn taucht ab "in ein Meer von strudelnden Schienbeinen". In den Massenmedien wurde Kahn zum Prime-Time-Nachrichtenthema. Fehlte eigentlich nur noch der ARD-Brennpunkt um 20.15 Uhr.

Aber ging es denn nicht nur ganz simpel ums Fangen von Fußbällen, um Hechtsprünge und eine Faustabwehr? Mitnichten. Das Handwerk des Hüters ist nicht zu unterschätzen. Die nervliche Anspannung ist enorm, vor allem, wenn die Nummer eins bei fünf Grad minus unterbeschäftigt zwischen den Pfosten ausharrt und erst in der 63. Minute den ersten Schuss parieren muss. Die mentale Anstrengung, so hat auch Kahn berichtet, kostet körperliche Substanz, mitunter drei Kilogramm pro Spiel. Torwart sein, das ist ein verdammt harter Job. Für einen wie Kahn war es deswegen schwer, das Metier des Fängers locker zu betreiben, zu kontrollieren, was eigentlich nicht zu kontrollieren ist. Denn wenn der Stürmer clever ist, dann schiebt er den Ball ins Netz, gewissermaßen als Krönung einer fußballerischen Penetration.

Kahn ist gefickt - und er fühlt sich auch so. Die "postkoitale Erotik im Fußball" (Dirk Schümer) ist eben nicht jedermanns Sache. Während der Stürmer orgasmische Freude erlebt, ist es beim letzten Mann ganz anders: "Der Torwart, der den Ball hineingeschossen bekommt, würde den Vorgang niemals als beglückende Kopulation erleben", schreibt Schümer in "Gott ist rund". Kahn hat es beschrieben: "Und ich bin der Arsch. Gänsehaut überzieht meinen Körper. Das ist der Moment der totalen Einsamkeit."

In einer Welt der übersteigerten Männlichkeit verlangt es titanischen Mut, sich jeden Samstag so einer Situation auszusetzen. In der Woche hat er im Training alles getan, um im Punktspiel gewappnet zu sein. Er will diese Art der öffentlichen Demütigung vermeiden, und dann passiert es doch wieder. Klar, dass sich im Torhüter etwas anstaut und dass es herausmuss. Aus Kahn sind emotionale Flutwellen herausgeschwappt aufs Stadiongrün, sie haben Mit- und Gegenspieler überspült, die Brandung ist über den Medien zusammengeschlagen. "Eier, wir brauchen Eier", hat er im Moment der Frustration gesagt und gleich mal ein geflügeltes Wort geprägt. Andi Herzog hat er durchgeschüttelt. Und seinen Kaugummi ("Der hat für mich eine ähnliche Wirkung auf mich wie ein Schmusetuch für ein kleines Kind") hat Kahn zwecks Triebabfuhr malträtiert. Man kann sagen, was man will: Lasch war er nie.

Den Arsch zusammengekniffen hat er noch immer - und eine geradezu protestantische Arbeitsmoral an den Tag gelegt. Kahn ist zum Prototyp des deutschen Torwarts geworden, weil er nicht nur sein Handwerk versteht, sondern auch Mumm für drei hat. Sie warfen nach ihm mit Bananen - es hat ihn stärker gemacht. Sie machten Affenlaute im Stadion - er wurde nur noch besser. Kurzum: Er kriegte vielleicht ein paar Dinger rein, aber man kriegte ihn nicht unter. Kahn, das role model, ist ein Willensmensch, der durch Selbstdisziplin fast alles erreicht.

In dieser Saison sind nur 20 Bälle reingegangen. Mehr Tore hat Kahn in der Bundesliga nicht kassiert. Vielleicht ist er deswegen entspannter und lockerer, vielleicht ist es auch die Aussicht auf ausgiebige Golfspiele, in denen endlich er den Ball reinmachen kann, gleich 18-mal.

Bei Kahns Abschiedstour in den vergangenen Wochen ist ein wenig untergegangen, dass er eines seiner besseren Jahre im Tor des FC Bayern München hingelegt hat. Man könnte also sagen, dass er auf dem Höhepunkt seiner Karriere abtritt. Mit 38 Jahren. Das ZDF hat ihn als Fachmann in sein Team berufen.

Man wird seine Expertisen schätzen. Denn nur ein Oliver Kahn weiß, ob das Ding haltbar war oder nicht.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.