Abschied von Kohle und Öl: Die Entziehungskur
Über nichts wurde in Paris so laut geschwiegen wie über Dekarbonisierung. Dabei ist der Ausstieg machbar und bezahlbar – aber anstrengend.
Das hört Serge Amabile gern. Der smarte Verkaufsleiter von „Blue Solutions“ wartet schon im halblangen beigen Mantel vor dem Rathaus, um seine Flotte von Elektroautos („Autolib“) anzupreisen. „Wir haben drei Milliarden Euro in ganz neue Batterien und eigene Fahrzeuge investiert“, sagt er und zeigt auf seine vier kompakten E-Mobile, klein wie Polos und in poppigen Farben. Dazu blau-weiße Strom-Kleinbusse, die aussehen, als habe man sie auf die Hälfe eines üblichen Busses zusammengequetscht.
Mit dem klimafreundlichen Carsharing hat der Konzern des französischen Betonmagnaten Vincent Bolloré einen globalen Markt im Auge: Leise und saubere Autos für Innenstädte, die in Verkehr und Abgasen ersticken. In Paris funktioniert das gut, sagt Amabile: 3.300 Fahrzeuge, 20.000 Fahrten am Tag, reservierte Parkplätze und fast 100.000 Abonnenten.
Nach zehn Minuten eines kohlenstoffarmen Fußwegs durch die Pariser Innenstadt öffnet sich der Bahnhof Châtelet. Von dort fährt die Vorortbahn RER B ohne größere CO2-Emissionen in 20 Minuten in den nördlichen Vorort Le Bourget. Shuttlebusse mit Hybridantrieb bringen die Delegierten zum Gelände der Klimakonferenz, wo schon die nächsten Elektroautos warten. Wen sein Ökogewissen plagt, der kann sich hier bei der UN von den CO2-Emissionen seiner Parisreise freikaufen. Und wer kräftige Waden hat, kann in Halle 4 den Akku seines Smartphones ohne Klimasünden per Hometrainer aufladen.
„Der Begriff ist für viele Länder schwierig“
Aber ausgerechnet in Halle 2 ist es mit der Begeisterung für den Abschied von Kohle, Öl und Gas vorbei. „Dekarbonisierung?“, seufzt Carole Dieschbourg und lässt sich auf das kleine braune Sofa in ihrem provisorischen Büro fallen. Die junge luxemburgische Umweltministerin, eine der wenigen grünen Amtsträger auf der Konferenz, ist pessimistisch. „Der Begriff ist für viele Länder schwierig.“ Eine diplomatische Untertreibung. In Wirklichkeit ist „Dekarbonisierung“ das heiße Eisen dieser Konferenz, an dem sich niemand die Finger verbrennen will.
Auch nicht Dieschbourg, die freundliche Frau mit den streng nach hinten gebundenen Haaren und dem angestrengten Lächeln. Denn sie hat in Paris mit Delegierten vieler Länder geredet und weiß: Akzeptabel sind höchstens Placeboformulierungen: „Netto-Null-Emissionen“, „Klimaresilienz“ oder „Klimaneutralität“. Darauf hat sich übrigens auch die EU verständigt. Für das Kohleland Polen war bei „Dekarbonisierung“ Schicht im Schacht.
Die aufgeregten Nerven soll eine Abkürzung beruhigen: DDPP steht für Deep Decarbonisation Pathway Project. Angeschoben hat es eine quirlige kleine Französin mit weißem Haarschopf, die auf den Bildern von der Klimakonferenz meist am Rand zu sehen ist: Laurence Tubiana, hinter Außenminister Fabius die Nummer zwei der französischen Garde für den Gipfel. Mit charmantem Augenaufschlag und der Toughness einer Topdiplomatin führt sie in den Hinterzimmern die Verhandlungen. Mit der gleichen Zielstrebigkeit hat Tubiana DDPP aufs Gleis geschoben, als sie noch die Chefin des Pariser Thinktanks Iddri war: Für die 16 größten Klimasünder haben einheimische Experten Wege zur CO2-Nulldiät bis 2050 aufgeschrieben.
Der Erde droht der Hitzekollaps. Deshalb wollen die Staatschefs der Welt Anfang Dezember in Paris einen globalen Klimaschutz-Vertrag vereinbaren. Die taz berichtete vom 28. November bis zum 14. Dezember 2015 täglich auf vier Seiten in der Zeitung und hier auf taz.de.
Das Ergebnis: Der Abschied von den Fossilen muss nicht weh tun. Dekarbonisierung ist machbar und bezahlbar, er lässt den armen Ländern genug Raum für Wirtschaftswachstum und eine größere Bevölkerung. „Das Projekt verbindet unser weltweites Ziel mit den Anstrengungen der Länder beim Klimaschutz“, sagt Tubiana. Auch das ist sehr diplomatisch formuliert. Es heißt: Wir zeigen auf, was nötig und möglich wäre, um das Klima zu retten und die Armut zu bekämpfen.
Das „dirty D-Word“
Und DDPP beantwortet die wichtigste Frage der Klimakonferenz: Wo soll in der Zukunft Geld investiert werden – und wo besser nicht, wenn die 2 Grad Erderwärmung nicht überschritten werden sollen? Die 16 untersuchten Länder sind für 75 Prozent aller CO2-Emissionen und fast 100 Prozent des Streits auf den COPs verantwortlich: Neben der G 7 sind das Schwellenländer wie China, Indien, Russland, Brasilien und Südafrika, aber auch Mexiko, Südkorea und Indonesien.
Im Jahr 2050 dürfen laut UN-Weltklimarat nur noch etwa 15 Milliarden Tonnen CO2 aus der Verbrennung von Kohle, Öl und Gas in die Atmosphäre gelangen (2012 waren es etwa 32 Milliarden). Teilt man das durch 9 Milliarden Menschen in 2050, darf jeder dann nur noch etwa 1,7 Tonnen CO2 pro Jahr produzieren – für einen Deutschen mit 10 Tonnen Ökobilanz ein harter Einschnitt. Indien dagegen mit 1,6 Tonnen kann sogar noch leicht zulegen.
Trotzdem ist die Allergie gegen Dekarbonisierung genau andersherum verteilt: Indien kämpft mit allen Mitteln dagegen, dass das „dirty D-Word“ überhaupt ins Abkommen findet. Und die Deutschen legten gleich zu Beginn der Verhandlungen schon mal eine „Gebrauchsanweisung für klimaverträgliche Investitionen“ vor.
Die Rezepte in den Ländern für diese Fast-Nulldiät sind ganz unterschiedlich. Überall aber, heißt es im Abschlussbericht des DDPP, braucht es mehr Energieeffizienz, den massiven Ausbau von erneuerbaren Energien oder Atomkraft und Strom aus Kohle, Öl oder Biomasse, bei dem man das Klimagift CO2 abscheidet und unterirdisch einlagert (CCS); und schließlich ein Ende für Öl und Kohle auch beim Verkehr, der Industrie und beim Heizen.
Für manche Staaten bedeutet die Dekarbonisierung eine Revolution – und eine Bedrohung. Die DDPP-Teilnehmer reden freimütig darüber, was die Kohlenstoff-Entziehungskur für ihre Länder bedeuten würde. Russland „kann 80 Prozent seines Energiebedarfs aus Erneuerbaren herstellen“, sagt George Safonov vom Zentrum für Umwelt- und Ressourcenwirtschaft Ranepa in Moskau. Aber das hieße auch ein Ende für sein Wirtschaftsmodell als Exportland von Öl und Gas und Widerstand von der fossilen Lobby.
Auch Kanada mit einer ähnlichen Nationalökonomie kann seinen Verkehr auf Strom umstellen und seine weiten Prärieflächen für den Anbau von Biotreibstoffen nutzen. China wiederum könnte mit erhöhter Effizienz, einem Wechsel von Kohle zu Gas und anderer Industrie seinen CO2-Ausstoß in der Industrie bis 2050 um 60 Prozent senken, sagt Fei Teng von der Tsinghua-Universität. Das Reich der Mitte lande aber 2050 trotzdem bei über 2 Tonnen pro Kopf.
Die Spannbreite des Möglichen ist groß. Die USA „können minus 80 Prozent erreichen mit bereits existierenden Technologien wie LED-Leuchten“, sagt Jim Williams vom Thinktank E3, „die Kosten liegen bei etwa einem Prozent der Wirtschaftsleistung, und wir können es schaffen, ohne heutige Investments zu gefährden.“ Indien wiederum wird wohl auch weiter Kohlekraftwerke bauen, die aber etwa ab 2030 mit CCS ausgerüstet sein müssen.
Manche Länder wie Südkorea oder Italien haben kaum lösbare Aufgaben vor sich, um die Konzepte in die Realität umzusetzen. Andere Staaten wie Deutschland mit der Energiewende oder Großbritannien mit seinem Gesetz zum Klimaschutz haben zumindest die ersten Schritte bereits gemacht und müssen „nur“ schneller werden.
Nulldiät ohne Hungerkur
„Ganz wichtig war, dass die Teams aus den einzelnen Ländern kamen und frei waren, wie sie das Ziel erreichen wollten“, sagt Henri Waisman, der das Projekt bei Iddri koordiniert. Denn auf Einmischung von außen reagieren die Nationalstaaten auch in Energiefragen allergisch. Aber klar war auch: Bei der COP dienten die Studien als Argumente bei den Gesprächen am Kaffeeautomaten. Noch in den letzten hart umkämpften Textentwürfen standen „der Übergang zu langfristigen niedrigen Emissionen“, „Klimaneutralität“ und „Dekarbonisierung“ nebeneinander.
Für die Fans der globalen Energiewende dienen die DDPP-Studien als Argument, dass die Nulldiät für den Kohlenstoff keine Hungerkur ist. Im Gegenteil: „Die Volkswirtschaften werden weiter Passagiere und Fracht befördern, ähnliche oder bessere Häuser bewohnen und öffentliche Dienste anbieten und ein hohes Niveau von Industrialisierung und Handel zeigen“, heißt es im Bericht.
Er geht davon aus, dass die Wirtschaft der 16 Länder jährlich im Schnitt um 3,1 Prozent wächst und die Bevölkerung um 17 Prozent bis 2050 steigt. Und auch die Kosten – in 35 Jahren insgesamt etwa 2,4 Billionen Dollar – machen demnach nur 1,64 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung aus. Investitionen in grüne Energietechnik und Energiesparen „liegen etwa 10 Prozent höher, als wir für die vergleichbare fossile Infrastruktur ausgeben müssten“, schätzen viele der Experten.
Aber diese höheren Investitionen würden durch niedrigere Kosten für Energie und für Krankheiten extra durch Rußbelastung mehr als ausgeglichen – in einem Australien mit 100 Prozent Ökoenergie würden demnach etwa private Haushalte weniger für ihre Stromrechnung zahlen als für den Kohlestrom. Von vermiedenen Umwelt- oder gar Klimaschäden ist da noch gar nicht die Rede.
Sinkende Emissionen trotz wachsender Wirtschaft
Die Internationale Energieagentur IEA, die an der Studie nicht beteiligt war und nicht für übergroßen Öko-Optimismus bekannt ist, findet die DDPP-Vorlagen dann auch durchaus realistisch. „Viele der Ergebnisse decken sich mit unseren Berechnungen“, bestätigt Kemal Ben Naceur, IEA-Executive Director für nachhaltige Energiepolitik. Auch die Umweltorganisation Greenpeace hat gerade ein neues Szenario ihrer „Energy (R)evolution“ rechnen lassen, nach dem die weltweite Versorgung mit 100 Prozent Ökoenergie bis 2050 technisch machbar und bezahlbar ist.
Und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) weist in einer aktuellen Studie darauf hin, dass die Wirtschaft in den OECD-Ländern in den letzten zehn Jahren um 16 Prozent gewachsen ist, während die Emissionen um 6 Prozent gesunken sind – die „Entkopplung“ von Energieverbrauch und Wohlstand sei auch für Volkswirtschaften wie China machbar, heißt es.
Große Begeisterung weckten die DDPP-Studien auf der Klimakonferenz aber nicht. Einerseits gelten manche Auswege wie CCS als teuer und nicht in großem Maßstab erprobt. Andere Vorschläge wie ein 2000 Kilometer langes Unterseekabel in Indonesien klingen utopisch. Und Ölstaaten wie Saudi-Arabien machten sehr deutlich, dass die Rahmenbedingungen der Dekarbonisierung – etwa ein Preis auf CO2 – für sie „nicht akzeptabel“ sind.
Vor dem Rathaus von Paris weht Monsieur Amabile ein kräftiger Wind ins Gesicht. Bei allem Erfolg des „Autolib“ machen seine Elektroautos trotz 250 Kilometer Reichweite und freiem Parkplatz bisher nicht einmal 1 Prozent der Fahrzeuge in der Innenstadt aus. Und im Empfangssaal des Hôtel de ille gibt Célia Blauel zu, dass sie auch nicht weiß, wie man die herrlich verschnörkelten Pariser Fassaden mit all ihren Erkern und Türmchen mit Wärmedämmung versehen kann, ohne das berühmte Gesicht der Stadt zu zerstören. „Die energetische Sanierung müssen wir wohl von innen machen“, sagt Blauel. Die ohnehin kleinen Appartements in einer der teuersten Städte der Welt würden dadurch noch winziger. Und weil das nicht geklärt ist, geht es beim Klimaschutz in Paris auch kaum voran: Statt die CO2-Reduktionen zu senken, hat die Hauptstadt ihren Ausstoß an Klimagasen sogar gesteigert.
Nur die Weltbank stellt dem Gastgeber der COP ein gutes Zeugnis aus. Ernstgemeinte Dekarbonisierung habe es bislang in der Weltgeschichte außerhalb von Krisen und Kriegen eigentlich nur einmal gegeben, heißt es in einer Studie – und zwar beim Rückgang der Emissionen um jährlich 4,5 Prozent zwischen 1980 und 1985: „Als Frankreich sein Atomprogramm einführte.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe