Abschiebungen aus Berlin: Die Polizei kommt weiter nachts
Die rot-grün-rote Landesregierung in Berlin hält an der umstrittenen Praxis nächtlicher Abschiebungen fest. Das belegen neue Zahlen.
Tatsächlich versprach das Mitte-links-Bündnis im ersten Koalitionsvertrag einen „Paradigmenwechsel“ in der Abschiebepolitik. Das klang gut, hatte aber mit der Wirklichkeit wenig zu tun, wie der Berliner Flüchtlingsrat wiederholt feststellte: Es wurde weiter fleißig abgeschoben, sogar in der Pandemie, als in anderen Bundesländern die Zahlen bei den Abschiebungen runtergingen. Zudem wurden humanitäre Bleiberechtsmöglichkeiten – entgegen den Versprechungen – kaum beachtet. Unter anderem wurden regelmäßig Menschen nachts aus ihren Unterkünften geholt, um sie abzuschieben – was nicht einmal das von CSU-Bundesinnenminister Horst Seehofer 2019 verschärfte Aufenthaltsgesetz zulässt, das nächtliches Abholen zur Abschiebung nur in Ausnahmen (§ 58, Absatz 7) gestattet.
Dass sich an der Berliner Abschiebepraxis bis heute nichts geändert hat, belegen neue Zahlen, die die Berliner Innenverwaltung in dieser Woche veröffentlichte. Danach wurden vom 1. Januar 2021 bis 31. Januar 2022 insgesamt 1.126 Menschen abgeschoben – und mehr als die Hälfte von ihnen, genau 645, zwischen 0.00 und 6.00 Uhr morgens dafür festgenommen. Obwohl im neuen rot-grün-roten Koalitionsvertrag von Dezember 2021 explizit steht: „Auf nächtliche Abschiebungen, insbesondere bei Familien mit Kindern, alten Menschen und Menschen mit Behinderung oder schwerer Erkrankung, soll verzichtet werden.“ Ein „Armutszeugnis“ seien diese Zahlen, kritisiert daher der Berliner Grünen-Abgeordnete Jian Omar, der die Anfrage gestellt hat, gegenüber der taz. „Nächtliche Abholungen zum Zweck der Abschiebung sind äußerst belastend, insbesondere für Familien mit Kindern.“ Genau deswegen habe man vereinbart, darauf zu verzichten.
Die Berliner Innenverwaltung rechtfertigt die Praxis damit, dass sie „aufgrund von verbindlichen Vorgaben der Zielstaaten zu Abflug- und Ankunftszeiten“ erfolge. Allerdings ist die „Organisation der Abschiebung“ laut Aufenthaltsgesetz ausdrücklich kein Grund für nächtliche Festnahmen – und diese somit rechtswidrig, wie der Flüchtlingsrat feststellt.
Der SPD-Innenverwaltung ist das offenbar ebenso egal wie der eigene Koalitionsvertrag. Dort heißt es auch: „Im Winter soll auf Abschiebungen verzichtet werden, wenn Witterungsverhältnisse dies humanitär gebieten.“ Dennoch wurden im Dezember und Januar 141 Menschen nach Moldau abgeschoben, als im „Armenhaus Europas“, wo Rom*nja systematisch diskriminiert werden, Temperaturen um den Gefrierpunkt herrschten.
Der Flüchtlingsrat weist auf weitere Punkte hin, die nicht mit den Versprechen des Koalitionsvertrags in Einklang zu bringen sind: „Regelmäßig“ komme es bei Abschiebungen zu Familientrennungen sowie zu Abschiebungen von kranken Menschen und Menschen mit Behinderung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut