Abschiebepraxis in Hamburg: Die Angst ist immer da
In Hamburg sind Abschiebungen mitten in der Nacht kein Einzelfall, und das schafft unter den Geflüchteten ein Klima der Furcht.
Doch es kam anders. In Düsseldorf angekommen, wurde sie von den dortigen Polizisten gefragt, ob sie überhaupt nach Italien ausreisen wolle. Selam verneinte, sie nahmen ihr die Handschellen ab, brachten sie zum Düsseldorfer Hauptbahnhof und setzten sie in den Zug nach Hamburg. Am späten Nachmittag traf sie völlig erschöpft wieder in ihrer Unterkunft ein. Gut vier Wochen ist das jetzt her und noch immer ist unklar, wieso Selam doch bleiben durfte.
Klar ist aber: Es ist kein Einzelfall. Noch immer werden Schutzsuchende mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen, um sie abzuschieben – in ihr Herkunftsland oder in das europäische Land, das nach dem Dublin-III-Abkommen für die Bearbeitung ihres Asylantrags zuständig ist. In vielen Hamburger Sammelunterkünften kommt es deshalb regelmäßig zu nächtlichen Tumulten.
„Nach unserer Beobachtung ist die schreckliche Praxis der nächtlichen Abschiebungen noch immer die Regel und nicht die Ausnahme“, sagt Christiane Schneider, Bürgerschaftsabgeordnete der Hamburger Linken. Nicht nur für die direkt Betroffenen, auch für die anderen Bewohner*innen der Unterkünfte sei das ein hoch belastendes Verfahren, denn es könne jeden treffen, der offiziell ausreisepflichtig sei. Für die Menschen, die durch dieses Prozedere oft aus dem Schlaf gerissen werden, erhalte „die Angst, der nächste zu sein, jede Nacht neue Nahrung“, sagt Schneider.
Eine der Nächsten könnte Eden* sein, auch ihr droht die Überstellung nach Italien. Die 24-Jährige stammt ebenfalls aus Eritrea und ist in der Schutzunterkunft am Kaltenkircher Platz untergebracht. Sie hat Post von der Hamburger Ausländerbehörde bekommen: Sie möge ihre Unterkunft vom kommenden Freitag ab 18 Uhr und bis zum nächsten Morgen nicht verlassen. „Dieses Schreiben ist eine sogenannte Meldeauflage, mit der die Ausländerbehörde die ausreisepflichtigen Personen über den konkreten Termin der Abschiebung im Rahmen des Dublin-Übereinkommens informiert“, erklärt Behördensprecher Matthias Krumm. Bei Zuwiderhandlung gegen die Aufforderung, die Unterkunft über Nacht nicht zu verlassen, droht sogar Abschiebehaft. Das bestätigte die Ausländerbehörde der taz.
Christiane Schneider, Bürgerschaftsabgeordnete der Hamburger Linken
Doch diese Aufenthaltspflicht ist rechtlich fragwürdig. Das Lüneburger Oberverwaltungsgericht hat diese Praxis für rechtswidrig erklärt und seine Entscheidung damit begründet, dass der verordnete Hausarrest eine Freiheitsentziehung sei, für die es im Aufenthaltsgesetz keine Rechtsgrundlage gibt. Mehrere Kammern des Hamburger Verwaltungsgerichts haben sich dieser Rechtsauffassung bereits angeschlossen.
Trotzdem gehören nächtliche Polizeieinsätze in Flüchtlingsunterkünften und auch Abschiebungen aus der Ausländerbehörde heraus noch immer zur Hamburger Normalität. Jedes Mal also, wenn Selam und Eden monatelang fast einmal pro Woche in die Ausländerbehörde gehen mussten, um ihre Duldung verlängern zu lassen, ging die Angst mit. „Bei jeder Visite der Ausländerbehörde besteht die Gefahr, festgenommen und abgeschoben zu werden“, erklärt ein Betreuer der Schutzeinrichtung am Kaltenkircher Platz.
„In Hamburg finden Abschiebungen aus der Ausländerbehörde oder nachts nicht regelhaft statt“, spielt Matthias Krumm die Dimension der Zwangsmaßnahmen herunter. Wenn doch, geschehe das aus „organisatorischen Gründen“ und „zur Sicherung der Rückführungsmaßnahme“, da „die Ausländerbehörde bundesgesetzliche gehalten“ sei, „die Ausreise durchzusetzen“.
Für Selam, die inzwischen im sechsten Monat schwanger ist, könnte die Geschichte nun doch noch ein gutes Ende nehmen. Nach vielen kurzfristigen Duldungen hat sie jetzt eine sechsmonatige Aufenthaltsgestattung bekommen – und damit über die Geburt ihres Kindes hinaus. Damit ist dann Deutschland für ihr Asylverfahren zuständig und da stehen die Chancen der 31-Jährigen nicht schlecht. Im vergangenen Jahr wurden über 95 Prozent der in Deutschland von Eritreer*innen gestellten Asylanträge angenommen.
*Namen geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach