Abkehr vom Binge-Watching bei Serien: Ein Häppchen die Woche
Alle Serienfolgen am Stück: Mit dem Streaming kam das Bingen. Nun kehren Anbieter zurück zum wöchentlichen Erscheinungsrhythmus.
Im Jahr 2013 hat Netflix alle Folgen der ersten Staffel von „House of Cards“ auf einen Schlag veröffentlicht. Seitdem haben sich Streamende an eine neue Form des Serienschauens gewöhnt: Ans sogenannte Binge-Watching. Fast zehn Jahre lang hielt das Konzept, mehrere Episoden einer Serie direkt hintereinander schauen zu können.
Seit etwa zwei Jahren kehren Streaming-Anbieter zurück in Richtung des bewährten Modells vom linearen Fernsehen: Immer mehr Sendungen werden peu à peu veröffentlicht. Vor allem, wenn es um prestigeträchtige Serien geht wie Amazon Primes „Die Ringe der Macht“. Der Streaming-Anbieter Disney+ veröffentlicht standardmäßig nur eine Folge pro Woche. Für die Plattformen hat das Vorteile.
Das Publikum führt so potenziell über Monate hinweg Gespräche über die Serie, tauscht sich wöchentlich über das Geschehen in den einzelnen Folgen auf Social Media aus. Das ist vor allem für die Serien gewinnbringend, die mit geringerem Marketingbudget, aber dafür dank Mundpropaganda langsam eine Fangemeinde aufbauen, wie etwa „Ted Lasso“ (Apple+).
Die Feelgood-Serie über einen Football-Coach am College bewies gutes Timing: Mitten im ersten Jahr der Coronapandemie, im August 2020, wurde die erste Folge veröffentlicht. Obwohl die Serie inhaltlich wenig Gesprächsstoff liefert, vermittelte gerade die erste Staffel den Zuschauer*innen seitdem wöchentlich ein Gefühl von Hoffnung und Wärme – und vergrößerte so beständig ihr Publikum. Erst 50 Tage nach dem ersten Release erreichte „Ted Lasso“ seine beste Quote.
Ein bisschen Zeit nehmen
Die Anbieter profitieren zudem auch wirtschaftlich davon: Wer die gesamte Staffel einer Serie schauen will (und das pünktlich zur Veröffentlichung, nicht ein halbes, spoilerreiches Jahr später), kann nicht nach einem Probemonat wieder aussteigen, sondern muss das Abo mehrere Monate lang bezahlen.
Für diejenigen, die hinter den Kulissen arbeiten, kann Binge-Watching frustrierend sein: „Man arbeitet ein Jahr lang an etwas und dann ist es für die Leute an einem Wochenende vorbei“, sagte Serienmacher Josh Schwartz („O.C., California“, „Gossip Girl“) vergangenes Jahr in einem Interview mit Vanity Fair.
Doch auch wenn alle Folgen einer Serie gleichzeitig veröffentlicht werden – man muss sie ja nicht an einem einzigen Wochenende sehen. Über die Verfilmung von Colson Whiteheads Pulitzerroman „Underground Railroad“ (Prime) schreibt etwa die New York Times: „Amazon veröffentlicht alle zehn Folgen auf einen Schlag, damit man sie bingen kann. Tun Sie das nicht.“ Unter anderem gibt auch das Baltimore Magazine diesen Tipp. Regisseur Barry Jenkins und Protagonistin Cora hätten es verdient, dass man ein paar Tage Zeit zwischen den einzelnen Episoden lässt, um sie wirklich wertschätzen zu können.
Gespräche und Bindung
Für die Zuschauer*innen wiederum hat das wöchentliche Schauen von Folgen psychologische Effekte. Das Wissen, dass im ganzen Land oder gar auf der ganzen Welt Leute gleichzeitig dieselbe Folge sehen, verleiht einem das Gefühl einer geteilten Erfahrung. Außerdem erhalten die Menschen mit weniger Zeit die Chance, trotzdem mitzuhalten und sich an Diskussionen zu beteiligen.
Nicht zuletzt bedeutet ein längerer Zeitraum, in dem man sich mit einer Serie beschäftigt, dass man eine stärkere parasoziale Beziehung zu den Protagonist*innen aufbauen kann. Das hilft dabei, sich besser an den Inhalt zu erinnern. Vielleicht auch deswegen werden Serien, die wöchentlich veröffentlicht werden, auch immer beliebter: Laut der Datenanalysewebsite Parrot Analytics waren 2021 weltweit 62 Prozent der 50 beliebtesten Sendungen Wochenreleases, eine Steigerung von ganzen 32 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Sollte das also bei allen Sendungen so gehandhabt werden? Nicht unbedingt. Seriengrößen wie „Stranger Things“, „Squid Game“ oder „Bridgerton“ schaffen es, viele Zuschauer*innen anzuziehen und länger im Gespräch zu bleiben. Wobei für die neueste Staffel von „Bridgerton“ Bälle und Pop-up-Shops organisiert wurden, um für mehr Aufmerksamkeit zu sorgen.
Gerade kleinere Produktionen könnten aber vom wöchentlichen Erscheinen profitieren und dadurch nach und nach mehr Fans gewinnen. Möglich ist auch ein Zwischenmodell: Die Reality-TV-Sendung „Love Is Blind“ wird von Netflix in zwei Päckchen à fünf beziehungsweise vier Folgen und plus Hochzeitsfolge herausgegeben. So können mehrere Episoden gebingt werden und trotzdem haben die Zuschauer*innen Zeit, sich in den sozialen Medien darüber auszutauschen.
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